In den letzten Jahren hat das Isländische Präventionsmodell (Icelandic Prevention Model, IPM) zur Prävention von Substanzkonsum bei Jugendlichen international große Aufmerksamkeit erregt. Dieses umfassende, kommunale Modell wird mit einem deutlichen Rückgang des Alkohol- und Drogenkonsums unter isländischen Jugendlichen in Verbindung gebracht. Angesichts des wachsenden Interesses an der Implementierung des IPM in anderen Ländern ist es wichtig, dass Fachkräfte im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung die Stärken und potentiellen Herausforderungen dieses Ansatzes kritisch betrachten.

Dieser Blogbeitrag basiert auf einer Reihe kürzlich veröffentlichter wissenschaftlicher Artikel, die das IPM und seine mögliche Übertragbarkeit auf andere Kontexte diskutieren (Koning et al., 2020; Kristjansson et al., 2021; Koning et al., 2021). Wir fassen die Haupterkenntnisse dieser Studien zusammen und erörtern die Implikationen für Präventionsfachkräfte.

Das IPM basiert auf dem Grundsatz „Die Gesellschaft ist der Patient“ und zielt darauf ab, das soziale Umfeld von Jugendlichen so zu gestalten, dass es vor Substanzkonsum schützt (Kristjansson et al., 2020a). Es umfasst Interventionen auf verschiedenen Ebenen, einschließlich Familie, Schule und Kommune, und legt besonderen Wert auf die Förderung von beaufsichtigten Freizeitaktivitäten und elterlicher Kontrolle.

Ein zentrales Element des IPM ist sein datengesteuerter Ansatz. Regelmäßige Erhebungen unter Jugendlichen liefern detaillierte Informationen über Substanzkonsum, Risiko- und Schutzfaktoren. Diese Daten werden genutzt, um gezielte Präventionsmaßnahmen zu entwickeln und deren Wirksamkeit zu überwachen. Dieser evidenzbasierte Ansatz hat in Island zu beeindruckenden Ergebnissen geführt: Zwischen 1998 und 2018 sank der Anteil der 15- bis 16-Jährigen, die in den letzten 30 Tagen Alkohol getrunken hatten, von 42% auf 5%, und der Anteil derjenigen, die jemals Cannabis konsumiert hatten, von 17% auf 6% (Kristjansson et al., 2020b).

Die Stärken des IPM liegen in seinem umfassenden, kommunalen Ansatz. Es fördert die aktive Beteiligung von Eltern, Schulen, Gemeinden und politischen Entscheidungsträgern an der Präventionsarbeit. Dieser Bottom-up-Ansatz kann die Akzeptanz und Nachhaltigkeit von Interventionen erhöhen. Zudem ermöglicht die kontinuierliche Datenerhebung eine flexible Anpassung der Maßnahmen an sich verändernde lokale Bedürfnisse (Sigfusdottir et al., 2009).

Trotz dieser Stärken gibt es wichtige kritische Punkte zu beachten. Die Evidenzbasis für die Wirksamkeit des IPM außerhalb Islands ist begrenzt. Obwohl das Modell in Island mit beeindruckenden Ergebnissen assoziiert wird, fehlen bisher randomisierte kontrollierte Studien oder rigorose Evaluationen in anderen Ländern. Dies erschwert die Beurteilung, inwieweit die beobachteten Effekte tatsächlich auf das IPM zurückzuführen sind und ob ähnliche Ergebnisse in anderen Kontexten zu erwarten wären (Koning et al., 2020). Neuere Studien aus anderen europäischen Ländern – etwa eine wiederholte Querschnittsstudie mit über 30.000 Jugendlichen in drei litauischen Städten (Asgeirsdottir et al., 2021) und eine zweiwellige Erhebung in Tarragona, Spanien (Meyers et al., 2023) – dokumentieren zwar ebenfalls positive Trends, können aber aufgrund ihrer Designs keine kausalen Wirkungsnachweise liefern.

Die Übertragbarkeit des IPM auf andere Kontexte stellt eine zentrale Herausforderung dar (Koning et al., 2021). Viele Kernelemente des Modells – wie strikte Ausgehzeiten für Jugendliche oder umfassende öffentlich finanzierte Freizeitangebote – sind eng mit dem spezifischen sozialen, kulturellen und politischen Kontext Islands verknüpft. Qualitative Studien zur möglichen Implementierung in anderen Ländern (z.B. Carver et al., 2021 für Schottland) zeigen, dass eine direkte Übertragung nur eingeschränkt möglich ist. Die Implementierung des vollständigen IPM-Ansatzes erfordert zudem finanzielle und organisatorische Ressourcen, die nicht überall verfügbar sind. Aktuelle Implementierungsstudien (Mann et al., 2024) bieten zwar neue Werkzeuge zur Anpassung des Modells, deren Wirksamkeit muss jedoch noch evaluiert werden.

Die bisherige Evidenzbasis stammt überwiegend von den Entwicklern des Modells selbst. Für eine robustere Bewertung der Wirksamkeit wären unabhängige Replikationsstudien wichtig, die von Forschenden ohne direkte Verbindung zum Entwicklerteam durchgeführt werden. Dabei sollten verstärkt Evaluationsdesigns wie Zeitreihenanalysen zum Einsatz kommen, die besser geeignet sind, kausale Effekte nachzuweisen.

Der in Island beobachtete Rückgang des Substanzkonsums bei Jugendlichen ist Teil eines breiteren Trends in vielen europäischen Ländern, was die Isolation des spezifischen IPM-Einflusses erschwert. Die beobachteten Veränderungen könnten eher allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen widerspiegeln als die direkten Auswirkungen des Präventionsmodells (Koning et al., 2020).

Ein Vergleich mit anderen evidenzbasierten Präventionsansätzen, wie Communities That Care (CTC), kann helfen, die Besonderheiten des IPM besser einzuordnen. Beide Modelle teilen wichtige Grundsätze wie den kommunalen Fokus, die Nutzung lokaler Daten und die Betonung evidenzbasierter Interventionen. CTC bietet jedoch einen stärker strukturierten Prozess für die Auswahl und Implementierung von Interventionen und weist longitudinale Wirksamkeitsnachweise mit hoher Aussagekraft auf.

Für Fachkräfte in der Prävention und Gesundheitsförderung bietet die Auseinandersetzung mit dem IPM wertvolle Anregungen zur Weiterentwicklung ihrer Arbeit. Der umfassende, kommunale Ansatz und die konsequente Nutzung lokaler Daten sind vielversprechende Strategien, die auch in anderen Kontexten Anwendung finden könnten.

Bei der Implementierung von Elementen des IPM in anderen Kontexten sollten Praktiker folgende Aspekte berücksichtigen:

  1. Kontextualisierung: Eine sorgfältige Analyse des lokalen Kontexts ist unerlässlich. Welche Elemente des IPM sind unter den gegebenen sozialen, kulturellen und politischen Bedingungen umsetzbar? Wie können sie an lokale Bedürfnisse und Ressourcen angepasst werden? (Koning et al., 2020)
  2. Evidenzbasierung: Trotz der Popularität des IPM ist eine kritische Bewertung der verfügbaren Evidenz wichtig. Praktiker sollten sich auf gut evaluierte Komponenten konzentrieren und gleichzeitig zur Erweiterung der Evidenzbasis beitragen, indem sie ihre eigenen Implementierungen sorgfältig evaluieren. (Foxcroft & Tsertsvadze, 2011)
  3. Ressourcenplanung: Die Umsetzung eines umfassenden Präventionsansatzes wie des IPM erfordert erhebliche Ressourcen. Eine realistische Einschätzung der verfügbaren Mittel und möglichen Finanzierungsquellen ist entscheidend für den nachhaltigen Erfolg. (Koning et al., 2021)
  4. Stakeholder-Engagement: Der partizipative Ansatz des IPM ist eine seiner Stärken. Die aktive Einbeziehung von Jugendlichen, Eltern, Schulen und anderen kommunalen Akteuren in die Planung und Umsetzung von Präventionsmaßnahmen kann deren Akzeptanz und Wirksamkeit erhöhen. (Kristjansson et al., 2020a)
  5. Datennutzung: Die systematische Erhebung und Nutzung lokaler Daten ist ein Kernaspekt des IPM. Praktiker sollten Möglichkeiten zur Integration von Datenerhebung und -analyse in ihre Präventionsstrategien prüfen, um Interventionen gezielt anpassen zu können. (Sigfusdottir et al., 2009)
  6. Politische Rahmenbedingungen: Das Beispiel Islands zeigt, wie wichtig unterstützende politische Maßnahmen für die Wirksamkeit von Präventionsprogrammen sein können. Fachkräfte sollten Möglichkeiten zur Beeinflussung lokaler und nationaler Politiken in Betracht ziehen, um ein förderliches Umfeld für ihre Präventionsarbeit zu schaffen. (Kristjansson et al., 2020b)

Die Diskussion um das IPM verdeutlicht die Komplexität der Suchtprävention und die Notwendigkeit, lokale Gegebenheiten, wissenschaftliche Erkenntnisse und praktische Umsetzbarkeit in Einklang zu bringen. Statt sich auf einzelne Risikofaktoren oder isolierte Interventionen zu konzentrieren, zielt das Modell darauf ab, das gesamte soziale Umfeld von Jugendlichen positiv zu beeinflussen. Dieser umfassende Ansatz könnte auch in anderen Kontexten vielversprechend sein, muss jedoch an die jeweiligen lokalen Bedingungen angepasst werden (Kristjansson et al., 2020a).

Für die zukünftige Forschung und Praxis ergeben sich wichtige Fragen: Wie können wir die Wirksamkeit umfassender Präventionsansätze in verschiedenen Kontexten rigoros evaluieren? Welche Komponenten des IPM sind für seine Wirksamkeit entscheidend und wie können diese in anderen Kontexten umgesetzt werden? Wie können wir die Balance zwischen Standardisierung und lokaler Anpassung finden?

Die Erfahrungen mit dem IPM und CTC zeigen die Bedeutung langfristiger Perspektiven in der Prävention. Beide Modelle betonen die Notwendigkeit nachhaltiger, kommunaler Anstrengungen über einen längeren Zeitraum. Dies steht im Gegensatz zu kurzfristigen, projektbasierten Ansätzen, die oft nur begrenzte und vorübergehende Wirkungen erzielen. Für Politiker und Entscheidungsträger ergibt sich daraus die Herausforderung, langfristige Finanzierung und Unterstützung für Präventionsmaßnahmen sicherzustellen (Kristjansson et al., 2020b).

Literaturverzeichnis

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Carver, H., McCulloch, P., & Parkes, T. (2021). How might the ‚Icelandic model‘ for preventing substance use among young people be developed and adapted for use in Scotland? Utilising the consolidated framework for implementation research in a qualitative exploratory study. BMC Public Health, 21(1), 1742. https://doi.org/10.1186/s12889-021-11828-z

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Koning, I. M., De Kock, C., van der Kreeft, P., Percy, A., Sanchez, Z. M., & Burkhart, G. (2021). Response to comment by Kristjansson et al. on: ‚Implementation of the Icelandic Prevention Model: a critical discussion of its worldwide transferability‘. Drugs: Education, Prevention and Policy, 28(4), 382–384. https://doi.org/10.1080/09687637.2021.1904378

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Kristjansson, A. L., Mann, M. J., Sigfusson, J., Thorisdottir, I. E., Allegrante, J. P., & Sigfusdottir, I. D. (2020a). Development and guiding principles of the Icelandic Model for preventing adolescent substance use. Health Promotion Practice, 21(1), 62–69. https://doi.org/10.1177/1524839919849032

Kristjansson, A. L., Mann, M. J., Sigfusson, J., Thorisdottir, I. E., Allegrante, J. P., & Sigfusdottir, I. D. (2020b). Implementing the Icelandic Model for preventing adolescent substance use. Health Promotion Practice, 21(1), 70–79. https://doi.org/10.1177/1524839919849033

Kristjansson, A. L., Sigfusdottir, I. D., Thorlindsson, T., Mann, M. J., Sigfusson, J., & Allegrante, J. P. (2016). Population trends in smoking, alcohol use and primary prevention variables among adolescents in Iceland, 1997–2014. Addiction, 111(4), 645–652. https://doi.org/10.1111/add.13248

Kristjansson, A. L., Sigfusdottir, I. D., Manne, M. J., Thorisdottir, I. A., & Allegrante, J. P. (2021). Response to Koning et al. commentary on the Icelandic Prevention Model. Drugs: Education, Prevention and Policy, 28(4), 378–381. https://doi.org/10.1080/09687637.2021.1904377

Mann, M. J., Allegrante, J. P., Smith, M. L., Sigfusdottir, I. D., & Kristjansson, A. L. (2024). The Icelandic Prevention Model Evaluation Framework and Implementation Integrity and Consistency Assessment. Evaluation and Program Planning, 106, 102451. https://doi.org/10.1016/j.evalprogplan.2024.102451

Meyers, C. C. A., Mann, M. J., Thorisdottir, I. E., Ros Garcia, P., Sigfusson, J., Sigfusdottir, I. D., & Kristjansson, A. L. (2023). Preliminary impact of the adoption of the Icelandic Prevention Model in Tarragona City, 2015-2019: A repeated cross-sectional study. Frontiers in Public Health, 11, 1117857. https://doi.org/10.3389/fpubh.2023.1117857

Sigfusdottir, I. D., Thorlindsson, T., Kristjansson, A. L., Roe, K. M., & Allegrante, J. P. (2009). Substance use prevention for adolescents: the Icelandic Model. Health Promotion International, 24(1), 16–25. https://doi.org/10.1093/heapro/dan038