Das Isländische Präventionsmodell
Chancen und Herausforderungen der Umsetzung von Planet Youth® im Kontext deutscher Präventionsansätze
inForschung, Prävention30. April 2025
In den letzten zwei Jahrzehnten war in vielen europäischen Ländern ein Rückgang des Substanzkonsums Jugendlicher zu beobachten (Koning et al., 2020; Pape et al., 2018). Vor diesem Hintergrund hat das Isländische Präventionsmodell (IPM), auch bekannt unter der Marke Planet Youth® international erhebliche Aufmerksamkeit als kommunaler (gemeindebasierter) Ansatz zur Prävention des Substanzkonsums bei Jugendlichen erregt. Entwickelt in Island seit den 1990er Jahren als Reaktion auf damals hohe Konsumraten (Sigfusdottir et al., 2009, 2020), wird das Modell oft mit dem besonders deutlichen Rückgang des Konsums von Alkohol, Tabak und anderen Drogen unter isländischen Jugendlichen assoziiert (Kristjansson et al., 2016). Dieses wachsende internationale Interesse macht eine kritische Auseinandersetzung mit den Stärken, Schwächen und insbesondere der Übertragbarkeit (Transferabilität) des Modells erforderlich, auch im Vergleich zu in Deutschland verfügbaren Ansätzen.
Das IPM ist weniger ein starres Interventionsprogramm als vielmehr ein Prozessrahmenwerk, das auf gemeindebasierter Zusammenarbeit und datengesteuerter Entscheidungsfindung beruht (Kristjansson, Mann, Sigfusson, et al., 2020b; Sigfusdottir et al., 2011). Es gründet auf klassischen soziologischen Devianztheorien (z.B. soziale Integration, soziale Kontrolle, soziale Unterstützung) (Sigfusdottir et al., 2009) und folgt dem Leitgedanken „Die Gesellschaft ist der Patient“ (“society is the patient”) (Kristjansson, Mann, Sigfusson, et al., 2020a). Ziel ist es, das soziale Umfeld von Jugendlichen – Familie, Schule, Peergroup (Gruppe der Gleichaltrigen) und Freizeit – durch gemeinschaftliches Handeln so zu gestalten, dass Schutzfaktoren (protektive Faktoren) gestärkt und Risikofaktoren gemindert werden (Kristjansson, Mann, Sigfusson, et al., 2020a; Sigfusdottir et al., 2011).
Fünf Leitprinzipien bilden die Basis (Kristjansson, Mann, Sigfusson, et al., 2020a): (1) Ein primärpräventiver Fokus auf das soziale Umfeld, (2) Betonung von Gemeinschaftsaktionen mit Schulen als lokalen Zentren, (3) Stärkung der Gemeinschaft durch Nutzung lokaler Daten, (4) Integration von Forschung, Politik, Praxis und Gemeinschaft in ein Team und (5) eine langfristige Perspektive mit angemessenen Ressourcen. Die praktische Umsetzung orientiert sich an zehn Kernschritten, die den Aufbau lokaler Koalitionen und Kapazitäten, die regelmäßige Datenerhebung und -analyse, die partizipative Zielsetzung sowie die Maßnahmenplanung und -umsetzung strukturieren (Kristjansson, Mann, Sigfusson, et al., 2020b).
Ein zentrales Element ist die datengesteuerte Vorgehensweise. Regelmäßige Befragungen (Surveys) von Jugendlichen erfassen lokale Trends bei Substanzkonsum sowie Risiko- und Schutzfaktoren (Sigfusdottir et al., 2009). Die Ergebnisse werden zeitnah und verständlich aufbereitet und der Gemeinde zur Verfügung gestellt, um evidenzbasiert lokale Strategien zu informieren (Kristjansson, Mann, Sigfusson, et al., 2020b; Sigfusdottir et al., 2011). In Island umfassten darauf basierende Maßnahmen die Förderung von Eltern-Kind-Zeit und elterlicher Aufsicht (Monitoring), die Einführung von Freizeitgutscheinen zur Förderung betreuter Freizeitaktivitäten (insbesondere Vereinssport) und die Unterstützung flankierender gesetzlicher Regelungen (Koning et al., 2020; Sigfusdottir et al., 2011).
Ergebnisse aus Island: Island verzeichnete eindrucksvolle Rückgänge des jugendlichen Substanzkonsums (Kristjansson et al., 2016; Sigfusdottir et al., 2009). Eine quasi-experimentelle Studie (ein Forschungsdesign, das Gruppen vergleicht, aber keine zufällige Zuteilung verwendet) fand über 12 Jahre stärkere Verbesserungen in IPM-Gemeinden im Vergleich zu Kontrollgemeinden (Kristjansson et al., 2010). Eine Längsschnittstudie (Beobachtung derselben Personen über Zeit) stützte die Modellannahmen über Risiko- und Schutzfaktoren (Kristjansson et al., 2021). Formeller Vereinssport wirkte in Island schützend (Halldorsson et al., 2014).
Methodische Limitationen und die Frage der Kausalität: Ob das IPM ursächlich (kausal) für den Rückgang verantwortlich ist, bleibt wissenschaftlich umstritten (Koning et al., 2020, 2021).
Evidenz außerhalb Islands und Übertragbarkeit: Die wissenschaftlichen Belege (Evidenzbasis) für die Wirksamkeit außerhalb Islands sind begrenzt. Studien aus Litauen (Asgeirsdottir et al., 2021) und Spanien (Meyers et al., 2023) fanden teilweise positive Trends, basieren aber auf wiederholten Querschnittsdaten ohne Kausalitätsnachweis und zeigten teils uneinheitliche Ergebnisse.
Die Übertragbarkeit (Transferabilität) wird aufgrund der starken Einbettung in den isländischen Kontext kritisch gesehen (Koning et al., 2020). Eine qualitative Studie in Schottland (Carver et al., 2021) bestätigte dies und nannte Barrieren wie Finanzierung, kulturelle Passung und das kommerzielle Franchise-Modell.
Das IPM ist ein Ansatz unter mehreren, die auf kommunaler Ebene Prävention und Gesundheitsförderung systematisch gestalten wollen. Ein Vergleich hilft bei der Einordnung:
Das IPM kann somit als ein Ansatz verstanden werden, der strukturell zwischen der stärker programmorientierten Logik von CTC und dem strategischen Koordinationsrahmen von Präventionsketten angesiedelt ist, mit einem starken Fokus auf wiederholte Datenerhebung zur Verlaufsbeobachtung und Anpassung. Alle drei Ansätze betonen die Bedeutung von Partizipation.
Neuere Entwicklungen beim IPM: Als Reaktion auf Evaluationsherausforderungen wurden Instrumente (IPM-EF und IPM-IICA) zur Bewertung der Umsetzungstreue (Implementierungsintegrität) und Konsistenz bei gleichzeitiger Dokumentation lokaler Anpassungen entwickelt (Mann et al., 2024). Ihr praktischer Nutzen zur Verbesserung der Evidenzbasis muss sich noch erweisen.
Für deutsche Kommunen bietet das IPM Impulse, insbesondere bezüglich der systematischen Datennutzung und der Mobilisierung für umfeldbezogene Prävention. Bei Implementierungsüberlegungen sollten jedoch folgende Aspekte bedacht werden:
Das Isländische Präventionsmodell inspiriert durch seinen konsequenten Fokus auf die Gestaltung des sozialen Umfelds Jugendlicher und die Mobilisierung lokaler Kräfte. Die in Island beobachteten positiven Entwicklungen sind bemerkenswert, jedoch ist die wissenschaftliche Evidenz für einen kausalen Beitrag des IPM und seine Übertragbarkeit auf andere Kontexte noch limitiert und methodisch angreifbar (Koning et al., 2020, 2021; Sigfusdottir et al., 2009).
Für die deutsche Präventionslandschaft, die mit Ansätzen wie CTC und Präventionsketten bereits über etablierte kommunale Strategien verfügt, liegt der Wert des IPM in der Übernahme von Kernprinzipien: die systematische Nutzung lokaler Daten zur Bedarfsermittlung, die Stärkung der gemeindebasierten Zusammenarbeit und die Fokussierung auf nachweislich wirksame Schutzfaktoren im Lebensumfeld. Diese Prinzipien können bestehende Ansätze ergänzen. Jede Implementierung von IPM-Elementen erfordert jedoch eine sorgfältige Anpassung an den lokalen Kontext, eine realistische Ressourcenplanung und im Idealfall eine methodisch hochwertige, unabhängige Evaluation, um den tatsächlichen Nutzen unter Beweis zu stellen.
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