Die soziale Entwicklungsstrategie als Rahmen für gesunde Jugendentwicklung
inBildung, Forschung, Gesundheit, Prävention18. Mai 2019
Dieser Blogbeitrag basiert auf dem wissenschaftlichen Artikel „Using the Social Development Strategy to Unleash the Power of Prevention“ von Kevin P. Haggerty und Kristin J. McCowan, veröffentlicht im Journal of the Society for Social Work & Research.
Als Fachkräfte im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung stehen wir vor der großen Herausforderung, die gesunde Entwicklung aller Jugendlichen zu fördern – insbesondere derjenigen aus benachteiligten Verhältnissen. Der hier vorgestellte Artikel liefert mit der sozialen Entwicklungsstrategie (SES) einen vielversprechenden theoretischen Rahmen, um dieser Hefrausforderung zu begegnen.
Die SES integriert Erkenntnisse aus der Präventionsforschung der letzten 30 Jahre und bietet einen ganzheitlichen Ansatz, um Verhaltensprobleme bei Jugendlichen vorzubeugen und ihre gesunde Entwicklung zu fördern. Dabei berücksichtigt sie explizit den Einfluss von struktureller Ungleichheit und Armut.
Die Soziale Entwicklungsstrategie (SES) wurde von Catalano und Hawkins (1996) entwickelt und basiert auf drei wichtigen entwicklungstheoretischen Perspektiven:
Diese Theorie, ursprünglich von Hirschi (1969) formuliert, geht davon aus, dass antisoziales Verhalten das Ergebnis schwacher Bindungen zu prosozialen Gruppen wie Familie und Schule ist. Hirschi postulierte, dass prosoziale Bindungen aus vier Komponenten bestehen: Attachement (emotionale Bindung), Commitment (Verpflichtung gegenüber konventionellen Zielen), Involvement (Einbindung in prosoziale Aktivitäten) und Belief (Glaube an konventionelle Normen und Werte).
Diese von Bandura (1977) entwickelte Theorie besagt, dass antisoziales Verhalten durch Verstärkung und Bestrafung erlernt wird. Sie betont die Rolle von Beobachtung und Modelllernen bei der Entwicklung von Verhaltensweisen.
Diese von Sutherland (1973) formulierte Theorie geht davon aus, dass kriminelles Verhalten in Interaktion mit anderen Menschen erlernt wird, insbesondere in intimen persönlichen Gruppen. Eine Person wird demnach eher antisozial, wenn sie mehr Kontakt zu Menschen hat, die Gesetzesverstöße befürworten, als zu solchen, die dies nicht tun.
Die SES integriert diese Theorien in einem umfassenden Modell, das erklärt, wie sowohl prosoziales als auch antisoziales Verhalten entstehen kann. Haggerty und McCowan (2018) betonen: „Die SES organisiert Schutzprozesse, die das Wohlbefinden aller Jugendlichen fördern“ (S. 746, eigene Übersetzung).
Abbildung 1. Das Modell der sozialen Entwicklung ("Soziale Entwicklungsstrategie"). Grüne, rote und blaue Linien zeigen einen positiven (1) Einfluss, einen negativen (2) Einfluss oder beides (1, 2) an (eigene, übersetzte Darstellung nach Haggerty und McCowan (2018)
Ein entscheidender Aspekt der SES ist die explizite Berücksichtigung struktureller Ungleichheiten. Die Autoren betonen: „Wenn wir die große Herausforderung meistern wollen, die Kraft der Prävention zu entfesseln und eine gesunde Entwicklung für alle sicherzustellen, dann müssen wir evidenzbasierte Rahmenbedingungen für die Förderung von Gesundheit und Wohlbefinden haben“ (Haggerty & McCowan, 2018, S. 742, eigene Übersetzung).
Die SES identifiziert drei Bereiche, die adressiert werden müssen:
Dies umfasst Faktoren wie sozioökonomischer Status, Alter, Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit. Die SES erkennt an, dass diese Faktoren einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklungschancen von Jugendlichen haben.
Hierzu gehören persönliche Eigenschaften und Fähigkeiten, die die Interaktion eines Jugendlichen mit seiner Umwelt beeinflussen.
Dies bezieht sich auf Umweltfaktoren wie die Sicherheit im Wohnumfeld oder das Ausmaß formeller und informeller sozialer Kontrolle.
Die Autoren betonen: „Es ist wichtig, die Rolle systemischer Barrieren für eine gesunde Jugendentwicklung zu berücksichtigen“ (Haggerty & McCowan, 2018, S. 746, eigene Übersetzung). Dies unterstreicht die Notwendigkeit, nicht nur auf individueller Ebene zu intervenieren, sondern auch strukturelle Veränderungen anzustreben.
Die Wirksamkeit der SES wird durch zahlreiche empirische Studien belegt. Haggerty und McCowan (2018) fassen zusammen: „Empirische Unterstützung für die SES wurde in einer Reihe von Beobachtungsstudien über die gesamte Entwicklungsspanne hinweg in Bezug auf verschiedene Ergebnisse gefunden“ (S. 744, eigene Übersetzung). Einige der wichtigsten Ergebnisse sind:
Besonders vielversprechend ist, dass die Effekte bei benachteiligten Jugendlichen und ethnischen Minderheiten besonders stark zu sein scheinen. Eine Studie von Haggerty et al. (2007, zitiert nach Haggerty & McCowan, 2018) zeigte beispielsweise, dass die Häufigkeit gewalttätigen Verhaltens bei afroamerikanischen Jugendlichen durch eine SES-basierte Intervention um 60% reduziert wurde.
Die SES erfordert Maßnahmen auf individueller, familiärer, schulischer und kommunaler Ebene. Als Fachkräfte sollten wir:
Haggerty und McCowan (2018) betonen: „Durch die Organisation von Prozessen um diese Ansatzpunkte herum stellt die SES eine Reihe von Präventionssystem-Konstrukten dar, die fokussiert, aktiviert und verstärkt werden können, um die Bedingungen zu schaffen, die zur Bewältigung der großen Herausforderung einer gesunden Entwicklung für alle Jugendlichen erforderlich sind“ (S. 747, eigene Übersetzung).
Die SES lenkt den Blick gezielt auf strukturelle Benachteiligungen. In der Praxis bedeutet das:
Die Autoren betonen die Bedeutung von „Möglichkeiten für Jugendliche, sich an gerechtigkeitsorientierten Initiativen zur Veränderung der Gemeinschaft zu beteiligen“ (Haggerty & McCowan, 2018, S. 747, eigene Übersetzung).
Der Artikel stellt mehrere evidenzbasierte Programme vor, die auf der SES basieren:
Als Fachkräfte sollten wir solche evaluierten Programme kennen und einsetzen.
Die Autoren betonen die Bedeutung von Jugendpartizipation, z.B. durch:
Solche Ansätze fördern nicht nur die Kompetenzen der Jugendlichen, sondern tragen auch zu positiven Veränderungen in der Gemeinschaft bei. Haggerty und McCowan (2018) betonen: „Möglichkeiten für Jugendliche, sich an gerechtigkeitsorientierten Initiativen zur Veränderung der Gemeinschaft zu beteiligen, können sowohl für persönliche als auch für soziale Veränderungsergebnisse wichtig sein“ (S. 747, eigene Übersetzung).
Trotz der vielversprechenden Ergebnisse gibt es auch Herausforderungen bei der Implementierung der SES in der Praxis:
Um diese Herausforderungen zu bewältigen, schlagen Haggerty und McCowan (2018) vor, dass Fachkräfte:
Haggerty und McCowan (2018) identifizieren mehrere wichtige Bereiche für zukünftige Forschung:
Die soziale Entwicklungsstrategie bietet einen vielversprechenden Rahmen, um die gesunde Entwicklung aller Jugendlichen zu fördern und Verhaltensprobleme vorzubeugen. Besonders wertvoll ist dabei der explizite Fokus auf strukturelle Benachteiligungen.
Als Fachkräfte sind wir gefordert, diesen ganzheitlichen Ansatz in unserer täglichen Arbeit umzusetzen. Das bedeutet, Jugendlichen vielfältige Beteiligungsmöglichkeiten zu eröffnen, ihre Kompetenzen gezielt zu fördern, Anerkennung zu geben und positive Bindungen zu stärken. Gleichzeitig müssen wir strukturelle Barrieren aktiv abbauen und die Stimmen benachteiligter Gruppen in den Mittelpunkt stellen.
Die vorgestellten evidenzbasierten Programme bieten konkrete Ansatzpunkte für die Praxis. Indem wir diese Erkenntnisse nutzen und weiterentwickeln, können wir einen wichtigen Beitrag leisten, um allen Jugendlichen – unabhängig von ihrer Herkunft – eine gesunde Entwicklung zu ermöglichen.
Haggerty und McCowan (2018) schließen ihren Artikel mit einem Aufruf zum Handeln: „Wir sind herausgefordert, die Wissenschaft zu nutzen, um Gemeinschaften zu schaffen, in denen selbst angesichts von Risiken alle Kinder gleiche Chancen haben; die Fähigkeiten entwickeln, die sie für das Leben brauchen; für ihre Beiträge anerkannt werden; an Familie, Schule und Nachbarschaft gebunden und stark mit ihnen verbunden sind; und sich für positive Zukunftsperspektiven einsetzen, die frei von der Bedrohung durch Gewalt und Drogenmissbrauch sind“ (S. 756, eigene Übersetzung).
Als Fachkräfte in Prävention und Gesundheitsförderung liegt es an uns, diesen Aufruf in die Tat umzusetzen und die SES als wirksames Instrument zur Förderung einer gesunden Jugendentwicklung zu nutzen und weiterzuentwickeln.
Das Präventionsprogramm „Communities That Care“ (CTC) ist auch in Deutschland verfügbar und wird bereits in 50 Kommunen umgesetzt. CTC bietet einen strukturierten Rahmen für gemeindebasierte Prävention, der auf den Prinzipien der Sozialen Entwicklungsstrategie aufbaut. Durch die Anpassung an den deutschen Kontext können Kommunen von diesem evidenzbasierten Ansatz profitieren, um die gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu fördern. Weitere Informationen finden Sie unter https://communities-that-care.de/.
Bandura, A. (1977). Social learning theory. Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall.
Catalano, R. F., & Hawkins, J. D. (1996). The social development model: A theory of antisocial behavior. In J. D. Hawkins (Ed.), Delinquency and crime: Current theories (pp. 149–197). New York, NY: Cambridge University Press.
Haggerty, K. P., & McCowan, K. J. (2018). Using the Social Development Strategy to Unleash the Power of Prevention. Journal of the Society for Social Work and Research, 9(4), 741-763. https://doi.org/10.1086/700274
Hawkins, J. D., Kosterman, R., Catalano, R. F., Hill, K. G., & Abbott, R. D. (2005). Promoting positive adult functioning through social development intervention in childhood: Long-term effects from the Seattle Social Development Project. Archives of Pediatrics & Adolescent Medicine, 159(1), 25-31. https://doi.org/10.1001/archpedi.159.1.25
Hirschi, T. (1969). Causes of delinquency. Berkeley, CA: University of California Press.
Strobel, K., Osberg, J., & McLaughlin, M. (2006). Participating in social change: Shifting adolescents‘ developmental pathways. In S. Ginwright, P. Noguera, & J. Cammarota (Eds.), Beyond resistance! Youth activism and community change: New democratic possibilities for practice and policy for America’s youth (pp. 197-214). New York, NY: Routledge.
Sutherland, E. H. (1973). Development of the theory [Private paper published posthumously]. In K. Schuessler (Ed.), Edwin Sutherland on analyzing crime (pp. 13–29). Chicago, IL: University of Chicago Press.
Wang, C., & Burris, M. A. (1997). Photovoice: Concept, methodology, and use for participatory needs assessment. Health Education & Behavior, 24(3), 369-387. https://doi.org/10.1177/109019819702400309