Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina hat in einer aktuellen Stellungnahme empfohlen, die Förderung von Selbstregulationskompetenzen zu einer zentralen Leitperspektive des deutschen Bildungssystems zu machen. Dabei kommt den Schulen eine Schlüsselrolle zu. Dieser Artikel beleuchtet die Hintergründe dieser Empfehlung und erläutert, wie Schulen zur Förderung von Selbstregulationskompetenzen beitragen können.

1. Was sind Selbstregulationskompetenzen?

Selbstregulationskompetenzen umfassen die Fähigkeiten eines Menschen, das eigene Denken, Fühlen und Handeln bewusst zu steuern und an bestimmte Ziele oder Situationen anzupassen (Karoly, 1993, zitiert nach Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, 2024). Es handelt sich um ein komplexes Bündel verschiedener Teilkompetenzen:

a) Kognitive Kompetenzen:

Hierzu gehören die sogenannten exekutiven Funktionen, die grundlegend für zielgerichtetes Verhalten sind (Diamond, 2013, zitiert nach Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, 2024):

  • Aufmerksamkeitssteuerung: Die Fähigkeit, sich auf relevante Informationen zu konzentrieren und Ablenkungen auszublenden.
  • Arbeitsgedächtnis: Die Fähigkeit, Informationen kurzzeitig im Gedächtnis zu behalten und mit ihnen zu arbeiten.
  • Kognitive Flexibilität: Die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Aufgaben oder Denkweisen zu wechseln.
  • Inhibition: Die Fähigkeit, impulsive Reaktionen zu unterdrücken.

Dazu kommen metakognitive Fähigkeiten – also das Nachdenken über die eigenen Denkprozesse. Dies umfasst zum Beispiel das Wissen über effektive Lernstrategien und die Fähigkeit, den eigenen Lernprozess zu planen, zu überwachen und zu bewerten.

b) Emotionale Kompetenzen:

  • Emotionsregulation: Die Fähigkeit, die eigenen Gefühle wahrzunehmen, zu verstehen und so zu beeinflussen, dass sie situationsangemessen sind.
  • Stressregulation: Die Fähigkeit, mit belastenden Situationen umzugehen und Stress zu bewältigen.

c) Motivationale Kompetenzen:

  • Zielsetzung: Die Fähigkeit, sich realistische und angemessene Ziele zu setzen.
  • Selbstmotivation: Die Fähigkeit, sich selbst für eine Aufgabe zu motivieren und dranzubleiben, auch wenn Schwierigkeiten auftreten.
  • Belohnungsaufschub: Die Fähigkeit, auf eine sofortige Belohnung zugunsten eines langfristigen Ziels zu verzichten.

d) Soziale Kompetenzen:

  • Perspektivübernahme: Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen.
  • Konfliktlösung: Die Fähigkeit, Konflikte konstruktiv anzugehen und zu lösen.
  • Kooperation: Die Fähigkeit, effektiv mit anderen zusammenzuarbeiten.

2. Warum sind Selbstregulationskompetenzen wichtig?

Die Bedeutung gut ausgeprägter Selbstregulationskompetenzen lässt sich kaum überschätzen. Sie sind entscheidend für verschiedene Lebensbereiche:

a) Schulischer und beruflicher Erfolg:

Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass Selbstregulationskompetenzen ein wichtiger Prädiktor für schulischen und später beruflichen Erfolg sind. Schülerinnen und Schüler mit guten Selbstregulationsfähigkeiten können sich besser konzentrieren, ihre Hausaufgaben effektiver planen und durchführen, und sich besser auf Prüfungen vorbereiten. Im Berufsleben helfen diese Kompetenzen bei der Bewältigung komplexer Aufgaben, beim Zeitmanagement und bei der Zusammenarbeit im Team.

b) Psychische und körperliche Gesundheit:

Gute Selbstregulationsfähigkeiten sind mit besserer psychischer Gesundheit verbunden. Menschen mit ausgeprägten Selbstregulationskompetenzen können besser mit Stress umgehen, sind weniger anfällig für Depressionen und Angststörungen und haben ein höheres Selbstwertgefühl. Auch für die körperliche Gesundheit sind diese Kompetenzen wichtig: Sie helfen dabei, gesunde Verhaltensweisen (wie regelmäßige Bewegung und ausgewogene Ernährung) aufrechtzuerhalten und ungesunde Verhaltensweisen (wie Rauchen oder übermäßigen Alkoholkonsum) zu vermeiden.

c) Soziale Beziehungen und gesellschaftliche Teilhabe:

Selbstregulationskompetenzen sind grundlegend für erfolgreiche soziale Interaktionen. Sie helfen dabei, eigene Bedürfnisse und die anderer zu berücksichtigen, Konflikte konstruktiv zu lösen und langfristige Beziehungen aufzubauen. Auf gesellschaftlicher Ebene tragen sie zu einer aktiven Teilhabe bei, indem sie es Menschen ermöglichen, sich für langfristige Ziele zu engagieren und verantwortungsvoll zu handeln.

3. Aktuelle Situation und Herausforderungen

Die Leopoldina-Stellungnahme weist darauf hin, dass das Wohlergehen und die Entfaltungsmöglichkeiten vieler Kinder und Jugendlicher in Deutschland beeinträchtigt sind. Einige zentrale Befunde:

  • Psychische Gesundheit: Laut verschiedener Studien zeigen 17-20% der Kinder und Jugendlichen in Deutschland psychische Auffälligkeiten. Die Corona-Pandemie hat diese Situation noch verschärft (Ravens-Sieberer et al., 2021, zitiert nach Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, 2024).
  • Körperliche Gesundheit: Viele Kinder und Jugendliche bewegen sich zu wenig und ernähren sich unausgewogen. Etwa 15% sind übergewichtig (Robert Koch-Institut, 2018, zitiert nach Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, 2024).
  • Bildung: Die PISA-Studie 2022 zeigt für Deutschland in den Bereichen Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften die bisher niedrigsten Kompetenzstände seit Beginn der Erhebungen (OECD, 2023, zitiert nach Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, 2024).
  • Digitale Medien: Die intensive Nutzung digitaler Medien, insbesondere sozialer Netzwerke, kann negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und die Konzentrationsfähigkeit haben.

Diese Herausforderungen unterstreichen die Notwendigkeit, Kinder und Jugendliche in der Entwicklung ihrer Selbstregulationskompetenzen zu unterstützen.

4. Wie können Schulen Selbstregulation fördern?

Die Leopoldina empfiehlt verschiedene Ansätze zur Förderung von Selbstregulationskompetenzen in Schulen:

a) Integration in den Unterrichtsalltag:

Lehrkräfte sollten Selbstregulation systematisch in ihren Unterricht einbeziehen. Dies kann durch drei zentrale Dimensionen der Unterrichtsqualität geschehen:

  • Effektive Klassenführung: Klare Strukturen und Regeln im Unterricht helfen Schülerinnen und Schülern, ihr Verhalten zu regulieren und sich auf das Lernen zu konzentrieren.
  • Kognitive Aktivierung: Anspruchsvolle Aufgaben, die zum Nachdenken anregen, fördern die kognitiven Aspekte der Selbstregulation.
  • Konstruktive Unterstützung: Eine wertschätzende und unterstützende Haltung der Lehrkraft fördert die emotionalen und motivationalen Aspekte der Selbstregulation.

Konkret könnte dies bedeuten:

  • Schülerinnen und Schüler bei der Planung und Strukturierung von Aufgaben zu unterstützen
  • Reflexionsphasen in den Unterricht einzubauen, in denen über Lernprozesse nachgedacht wird
  • Strategien zum Umgang mit Frustration oder Misserfolgen zu vermitteln
  • Kooperative Lernformen einzusetzen, die soziale Kompetenzen fördern

b) Spezifische Förderprogramme:

Ergänzend zum regulären Unterricht können gezielte Programme zur Förderung von Selbstregulationskompetenzen eingesetzt werden. Die Leopoldina-Stellungnahme nennt verschiedene evidenzbasierte Ansätze:

  • Achtsamkeitsbasierte Programme: Diese zielen darauf ab, die bewusste Wahrnehmung des gegenwärtigen Moments zu schulen. Sie können die Aufmerksamkeitsregulation und den Umgang mit Stress verbessern. Ein Beispiel ist das deutsche Rahmencurriculum AISCHU (Achtsamkeit in der Schule).
  • Verhaltensorientierte und kognitiv-verhaltensorientierte Ansätze: Diese Programme arbeiten an der Veränderung von Verhaltensmustern und den zugrundeliegenden Denkweisen. Ein Beispiel ist das WOOP-Programm (Wish-Outcome-Obstacle-Plan), das die Zielsetzung und -verfolgung trainiert.
  • Körperorientierte Ansätze: Diese nutzen körperliche Aktivität oder Entspannungstechniken zur Förderung der Selbstregulation. Beispiele sind Yoga-Programme oder spezielle Bewegungseinheiten zur Förderung der exekutiven Funktionen.

c) Schulentwicklung:

Die Förderung von Selbstregulationskompetenzen sollte als Leitbild in Schulkonzepte integriert werden. Dies bedeutet:

  • Die Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses von Selbstregulation im Kollegium
  • Die Verankerung der Selbstregulationsförderung im Schulprogramm
  • Die Schaffung von Strukturen, die selbstreguliertes Lernen unterstützen (z.B. Lernzeiten, in denen Schüler eigenverantwortlich arbeiten)

d) Lehrerbildung:

Die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften sollte Selbstregulation als Schwerpunkt aufnehmen. Lehrkräfte benötigen:

  • Fundiertes Wissen über Selbstregulationskompetenzen und deren Entwicklung
  • Kenntnisse über Möglichkeiten der Förderung im Unterricht
  • Fähigkeiten zur Gestaltung selbstregulationsförderlicher Lernumgebungen

e) Einbeziehung digitaler Medien:

Die Leopoldina empfiehlt auch, die Chancen digitaler Medien für die Förderung von Selbstregulation zu nutzen. Dies könnte beinhalten:

  • Den Einsatz von Apps zur Unterstützung von Selbstregulationsprozessen (z.B. zur Planung oder Selbstreflexion)
  • Die Vermittlung von Strategien zur selbstregulierten Nutzung digitaler Medien

5. Umsetzung und Evaluation

Für eine erfolgreiche Umsetzung dieser Empfehlungen sind laut Leopoldina mehrere Schritte notwendig:

a) Entwicklung von Indikatoren:

Es sollten zuverlässige Indikatoren für Selbstregulationskompetenzen entwickelt werden. Diese könnten verschiedene Aspekte umfassen:

  • Kognitive Tests zur Messung exekutiver Funktionen
  • Selbsteinschätzungsfragebögen zur Erfassung von Lern- und Emotionsregulationsstrategien
  • Verhaltensbeobachtungen im Unterricht

b) Integration ins Bildungsmonitoring:

Diese Indikatoren sollten in das bundesweite Bildungsmonitoring aufgenommen werden. Dies würde erlauben, die Entwicklung von Selbstregulationskompetenzen auf Systemebene zu verfolgen und den Erfolg von Fördermaßnahmen zu evaluieren.

c) Forschung und Entwicklung:

Die Leopoldina empfiehlt die Einrichtung von Forschungsprogrammen zur Entwicklung und Evaluation wirksamer Förderstrategien. Dabei sollten Wissenschaft und Praxis eng zusammenarbeiten.

d) Schrittweise Implementation:

Die Einführung sollte schrittweise erfolgen, beginnend mit Pilotprojekten, deren Erfahrungen dann für eine breitere Umsetzung genutzt werden können.

6. Fazit

Die systematische Förderung von Selbstregulationskompetenzen in Schulen kann einen wichtigen Beitrag zur positiven Entwicklung von Kindern und Jugendlichen leisten. Sie hat das Potenzial, nicht nur den schulischen Erfolg zu verbessern, sondern auch die psychische und physische Gesundheit zu stärken und die Grundlagen für ein erfülltes und verantwortungsvolles Leben zu legen.

Die Umsetzung der Leopoldina-Empfehlungen erfordert ein koordiniertes Vorgehen aller Beteiligten im Bildungssystem – von der Bildungspolitik über die Schulverwaltung bis hin zu den einzelnen Lehrkräften.
Sie stellt eine Herausforderung dar, bietet aber auch die Chance, das deutsche Bildungssystem nachhaltig zu verbessern und Kinder und Jugendliche besser auf die Anforderungen einer komplexen Welt vorzubereiten.

Schools That Care – Unterstützung bei der Förderung von Selbstregulationskompetenzen

Schools That Care (STC) ist eine Methode, die Schulen dabei unterstützt, ihre Präventionsarbeit zielgerichtet und effektiv zu gestalten. Sie kann Schulen auch bei der Umsetzung der Leopoldina-Empfehlungen zur Förderung von Selbstregulationskompetenzen helfen:

  1. Bedarfsanalyse: STC ermöglicht durch eine repräsentative Schülerbefragung die Ermittlung spezifischer Präventionsbedarfe anhand von Risiko- und Schutzfaktoren, die auch Aufschluss über die Selbstregulationskompetenzen der Schüler geben.
  2. Bestandsaufnahme: Mit STC können Schulen ihre bestehenden Präventionsangebote, darunter auch Programme zur Förderung von Selbstregulation, systematisch erfassen und bewerten.
  3. Evidenzbasierte Programmauswahl: STC nutzt die „Grüne Liste Prävention“, um wirksame Programme zu identifizieren. Dies kann Schulen helfen, geeignete Maßnahmen zur Förderung von Selbstregulationskompetenzen auszuwählen.
  4. Partizipative Strategie-Entwicklung: STC bezieht alle relevanten Akteure in der Schule ein. Dies entspricht der Empfehlung der Leopoldina, Selbstregulation als gemeinsames Leitbild zu etablieren.
  5. Nachhaltige Implementierung: STC bietet einen strukturierten Prozess zur nachhaltigen Verankerung von Präventionsmaßnahmen, was für die langfristige Förderung von Selbstregulationskompetenzen wichtig ist.
  6. Evaluation und Anpassung: STC sieht regelmäßige Wiederholungen der Schülerbefragung vor, was eine kontinuierliche Überprüfung und Anpassung der Maßnahmen zur Förderung von Selbstregulationskompetenzen ermöglicht.

Durch diese Aspekte kann Schools That Care Schulen dabei unterstützen, die Empfehlungen der Leopoldina zur Förderung von Selbstregulationskompetenzen systematisch und nachhaltig umzusetzen. Der Ansatz wird derzeit von uns im Rahmen des Projekts „Weitblick“ in Zusammenarbeit mit dem Verband der Privaten Krankenversicherung und der Medizinischen Hochschule Hannover weiterentwickelt und evaluiert.

Literaturverzeichnis

Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina (2024). Förderung der Selbstregulationskompetenzen von Kindern und Jugendlichen in Kindertageseinrichtungen und Schulen. Halle (Saale). https://doi.org/10.26164/leopoldina_03_01157