Die Gestaltung öffentlicher Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit stellt eine Kernaufgabe des modernen Staates dar. Die zentrale Herausforderung besteht darin, diese Leistungen nicht nur qualitativ hochwertig und effizient, sondern auch gerecht und bürgernah zu erbringen. Der britische Ökonom Julian Le Grand legte in seinem Werk „The Other Invisible Hand: Delivering Public Services through Choice and Competition“ (2007) die These vor, dass Wettbewerb und Wahlfreiheit wirksame Instrumente zur Steigerung der Qualität öffentlicher Dienste sein können. Auch wenn das deutsche Präventionsgesetz (PrävG) von 2015 nicht explizit auf Le Grands Überlegungen rekurriert, etablierte es eine bemerkenswert ähnliche Struktur. Es schuf einen innovativen Rahmen, der auf einem klassischen sozialversicherungsrechtlichen Dreiecksverhältnis basiert und durch evidenzbasierte Kriterien anstelle eines freien Marktes gesteuert wird, um den Akteuren sowohl Wahlfreiheit als auch Planungssicherheit zu gewähren.
Le Grands Analyse der Steuerungsmodelle für öffentliche Dienstleistungen
Le Grand (2007) unterscheidet vier grundlegende Modelle staatlicher Steuerung:
- Vertrauen (Trust): Dieses Modell beruht auf der Annahme, dass Fachkräfte (die „Ritter“) intrinsisch motiviert und altruistisch handeln. Es stößt jedoch an seine Grenzen, wo Eigeninteressen (das „Schurken“-Verhalten) oder divergierende professionelle Standards die Oberhand gewinnen.
- Anweisung und Kontrolle (Command-and-Control): Ein hierarchisches Modell, das über Zielvorgaben und Sanktionen steuert. Es kann kurzfristig Wirkung zeigen, birgt aber langfristig das Risiko von Demotivation, strategischer Zielerreichung („Gaming“) und Innovationshemmung.
- Mitsprache (Voice): Dieses Modell setzt auf die direkte Beteiligung und Rückmeldung der Nutzer. Es birgt jedoch die Gefahr, dass vor allem artikulationsstarke und ressourcenreiche Gruppen profitieren, während bei Monopolanbietern oft der tatsächliche Veränderungsdruck ausbleibt.
- Wahlfreiheit und Wettbewerb (Choice and Competition): Für Le Grand das überlegene Modell. Es operiert über „Quasi-Märkte“, auf denen staatlich finanzierte Nutzer zwischen verschiedenen Anbietern wählen können. Das Geld folgt der Entscheidung der Nutzer und schafft so starke Anreize für Qualität, Effizienz und Nutzerorientierung. Le Grand argumentiert, dass diese „andere unsichtbare Hand“ zu mehr Gerechtigkeit führen kann, da sie gerade den weniger privilegierten Nutzern Entscheidungsmacht verleiht.
Le Grand plädiert für eine intelligente Kombination dieser Elemente, hebt jedoch das transformative Potenzial einer Verschiebung hin zu mehr Wahlfreiheit und Wettbewerb hervor.
Das deutsche Präventionsgesetz: Ein innovativer Rahmen für Gesundheit
Das deutsche Präventionsgesetz entspricht in seiner Architektur für die Gesundheitsförderung in Lebenswelten (§ 20a SGB V) den Überlegungen Le Grands. Lebenswelten, definiert als „für die Gesundheit bedeutsame, abgrenzbare soziale Systeme“ wie Kindertagesstätten, Schulen oder Kommunen (GKV-Spitzenverband, 2024, S. 22), stehen im Zentrum einer regulierten Struktur, die auf einem sozialversicherungsrechtlichen Dreiecksverhältnis beruht.
- Das Dreiecksverhältnis als regulierter Prozess
Im Kern dieses Modells stehen drei Akteure in einer klar definierten Beziehung:
- Die Leistungsträger (Krankenkassen) agieren nicht als kollektive Einkäufer, sondern stellen Ressourcen auf Basis transparenter, im Leitfaden Prävention festgelegter Kriterien zur Verfügung (GKV-Spitzenverband, 2024, S. 104). Sie fungieren als Garanten der Finanzierung und der Qualitätssicherung innerhalb dieser gesetzten Leitplanken.
- Die Leistungsempfänger (Lebenswelten) selbst (z. B. eine Schule) sind als der aktive Akteur konzipiert. Sie beantragen Mittel über ein vorstrukturiertes Verfahren und verfügen über Wahlfreiheit: Sie können entweder einen externen Dienstleister beauftragen oder die Mittel nutzen, um eigenständig Maßnahmen zu entwickeln.
- Die Leistungsanbieter sind eine diverse Gruppe qualitätsgesicherter Anbieter, etwa aus der „Grünen Liste Prävention“, steht im Wettbewerb, um von den Lebenswelten für die Umsetzung von Maßnahmen ausgewählt zu werden.
- Wettbewerb und Wahlfreiheit innerhalb klarer Leitplanken
Dieses System ermöglicht sowohl Wahlfreiheit als auch Wettbewerb. Eine Schule, Kita oder Kommune kann bedarfsgerecht und autonom entscheiden, wie und mit welchem Partner sie ihren gesetzlichen Auftrag zur Gesundheitsförderung verwirklicht. Dies stimuliert einen Wettbewerb der Anbieter um die wirksamste Dienstleistung. Entscheidend ist dabei die Steuerung durch den Leitfaden Prävention des GKV-Spitzenverbandes. Er definiert die evidenzbasierten Leitplanken, innerhalb derer die Lebenswelt wählt und die Krankenkassen finanzieren (GKV-Spitzenverband, 2024).
Die Diskrepanz zwischen Gesetzesanspruch und Umsetzungspraxis
Obwohl die gesetzliche Architektur auf die Aktivierung der Lebenswelten zielt, zeigt die Praxis ein ambivalentes Bild. Der intendierte „Markt der Möglichkeiten“ entwickelt sich nur zögerlich. Lebenswelten verharren oft in einer passiven Rolle und werden ihrerseits von Leistungsträgern mit standardisierten Angeboten adressiert. Diese Implementierungslücke ist jedoch kein Beleg für ein fehlerhaftes Design des Gesetzes, sondern Ausdruck der Pfadabhängigkeit des deutschen Gesundheitssystems und des Aufeinandertreffens von Akteuren, die unterschiedlichen Handlungslogiken folgen (Rosenbrock & Gerlinger, 2006).
Die deutsche Gesundheitspolitik war historisch durch die Dominanz der kurativen Individualmedizin und eine nachrangige, lange Zeit sogar diskreditierte Rolle der Prävention gekennzeichnet (Rosenbrock & Gerlinger, 2006). Das PrävG stellt einen Paradigmenwechsel dar, der auf die Trägheitsmomente eines etablierten Systems trifft. Die Ursachen für die zögerliche Umsetzung sind vielschichtig:
- Fehlanreize im Kassenwettbewerb: Der Wettbewerb der Krankenkassen orientiert sich primär am Beitragssatz. Dies schafft einen starken Anreiz zur Risikoselektion, also zur Gewinnung junger, gesunder und einkommensstarker Mitglieder („gute Risiken“) bei gleichzeitiger Vermeidung von Versicherten mit hohem Krankheitsrisiko (Rosenbrock & Gerlinger, 2006). Aus dieser ökonomischen Logik heraus erscheint es rational, Präventionsangebote nicht primär dort zu platzieren, wo der gesundheitliche Bedarf am größten ist, sondern dort, wo eine positive Mitgliederselektion zu erwarten ist.
- Inertia etablierter Versorgungsstrukturen: Die Angebotsseite wird von etablierten, oft subsidiär finanzierten Strukturen (z.B. Fachstellen) dominiert. Diese sind Teil eines korporatistischen Steuerungsmodells, in dem der Staat Regulierungsaufgaben an Verbände und Organisationen delegiert (Rosenbrock & Gerlinger, 2006). Solche Akteure sind historisch nicht auf Wettbewerb, sondern auf Bestandssicherung innerhalb fester Zuständigkeiten ausgerichtet. Ein transparenter Markt, wie ihn das PrävG anlegt, würde ihre thematischen Grenzen offenlegen und ihre Qualität vergleichbar machen – eine Entwicklung, der ein natürliches Beharrungsinteresse entgegensteht.
Das Zusammenspiel dieser institutionellen Trägheitsmomente und ökonomischen Anreize führt dazu, dass die Nachfrageseite – die Lebenswelten – nur unzureichend aktiviert wird.
Die Überwindung der Implementierungslücke durch professionelle Prozessbegleitung
Beobachtungen aus der Umsetzungspraxis deuten jedoch darauf hin, dass diese Lücke schließbar ist. Sobald Lebenswelten durch intermediäre Akteure professionell bei der Bedarfsanalyse, Antragstellung und der Auswahl qualitätsgesicherter Konzepte unterstützt werden, funktioniert das System wie intendiert. Praktische Erfahrungen zeigen hierbei eine hohe Offenheit und keinerlei Widerstände aufseiten der Lebenswelten. Systematisch und leitfadengerecht vorbereitete Förderanträge stoßen bei den Krankenkassen auf eine hohe Bewilligungsquote. Dieses Vorgehen erweist sich als skalierbar und ermöglicht die Etablierung langfristig finanzierter Strukturen in Kommunen, Schulen, Jugendhilfeeinrichtungen und anderen Lebenswelten.
Die Architektur des Systems scheint demnach funktionsfähig, sofern sie professionell genutzt wird. Mögliche Fehlanreize und die Beharrungskräfte etablierter Fachstellen können durch die klaren, evidenzbasierten Kriterien des Leitfadens und eine aktivierte, wählende Lebenswelt wirksam ausbalanciert werden.
Weiterentwicklung im Lichte von Ethik und Evidenz
Im gesundheitspolitischen Diskurs wird die Forderung nach einer grundlegenden Neuausrichtung des Systems laut, etwa durch eine stärkere Zentralisierung der Mittelvergabe und eine „Entbürokratisierung“ der Qualitätsvorgaben. Diese Vorschläge bedürfen einer kritischen Reflexion.
- Die Ethik der Wahlfreiheit vs. die Gefahr der Ungleichheit: Ein valider Kritikpunkt ist die ungleiche Verteilung von Präventionsangeboten. Aus der Perspektive Le Grands ist dies jedoch kein Argument gegen das Wettbewerbsprinzip an sich, sondern für dessen bessere justierende Ausgestaltung. Wahlfreiheit ist ein ethisches Gut, da sie gerade benachteiligten Gruppen eine Stimme gibt. Die Antwort auf eine beklagte Fehlsteuerung sollte daher nicht die Eliminierung des Wettbewerbs sein, sondern dessen gezielte Ausrichtung auf Gerechtigkeitsziele, etwa durch höhere Anreizstrukturen für Maßnahmen in sozial benachteiligten Lebenswelten.
- Die Ethik der Evidenzbasierung vs. der Vorwurf der Bürokratie: Die Forderung nach „Entbürokratisierung“ muss gegen die ethische Pflicht zur Wirksamkeit abgewogen werden. Evidenzbasierung, verstanden als ein pluralistischer Ansatz (De Bock et al., 2021), ist kein Selbstzweck. Sie ist der ethische Imperativ, öffentliche Gelder für Maßnahmen einzusetzen, deren Nutzen plausibel oder belegt ist. Der Leitfaden Prävention ist das zentrale Instrument, das diesen Anspruch sichert. Eine Aufweichung der Kriterien würde primär Anbietern mit nicht evaluierten Konzepten dienen.
- Die Ethik der Governance – Transparenter Wettbewerb vs. verdeckte Interessenkonflikte: Eine stärkere Zentralisierung der Mittelvergabe, etwa durch landesweite Vergabestellen, birgt die Gefahr einer Medikalisierung sozialer Probleme (Rosenbrock & Gerlinger, 2006). Sie würde die Deutungshoheit und die Ressourcenkontrolle genau jenen etablierten, professionell dominierten Strukturen zuweisen, deren Trägheitsmomente die Entfaltung eines bedarfsorientierten Marktes bisher behindern. An die Stelle eines transparenten Wettbewerbs um die beste Leistung träte ein intransparenter Verteilungskampf, der von institutionellen Eigeninteressen statt von den Bedürfnissen der Lebenswelten geleitet wird.
Fazit: Evolution statt Revolution
Die Architektur des Präventionsgesetzes stellt eine international beachtenswerte Struktur dar, die einen qualitätsgetriebenen Wettbewerb mit einem modernen Evidenzverständnis verbindet. Die aktuellen Umsetzungsschwächen sind weniger ein Indiz für ein fehlerhaftes Design als vielmehr für die Herausforderungen in der Marktentwicklung und der Überwindung historisch gewachsener Strukturen.
Die Zukunft liegt in der intelligenten Evolution des bestehenden Modells: durch gezielte Anreize statt der Abschaffung des Wettbewerbs und durch die Stärkung der Nachfrageseite mittels professioneller Unterstützung. Es gilt, die sich gerade entwickelnde Eigeninitiative der Lebenswelten zu fördern.
Literaturverzeichnis
De Bock, F., Dietrich, M., & Rehfuess, E. (Hrsg.). (2021). Memorandum „Evidenzbasierung in Prävention und Gesundheitsförderung“. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). https://www.bzga.de/fileadmin/user_upload/PDF/bzga-fachwissen/Memorandum_Evidenzbasierung_in_PGF_barrierefrei.pdf
GKV-Spitzenverband. (2024). Leitfaden Prävention: Handlungsfelder und Kriterien nach § 20 Abs. 2 SGB V zur Umsetzung der §§ 20, 20a und 20b SGB V. Fassung vom 19. Dezember 2024.
Le Grand, J. (2007). The other invisible hand: Delivering public services through choice and competition. Princeton University Press.
Rosenbrock, R., & Gerlinger, T. (2006). Gesundheitspolitik: Eine systematische Einführung (2. Aufl.). Verlag Hans Huber.