Dieser Artikel basiert auf dem wissenschaftlichen Artikel „How to Teach Evidence-Based Practice in Social Work: A Systematic Review“ von Florian Spensberger et al., veröffentlicht in der Zeitschrift „Research on Social Work Practice“ im Jahr 2020.

Warum evidenzbasierte Praxis in der Sozialen Arbeit?

Die evidenzbasierte Praxis (EBP) hat in den letzten Jahren in der Sozialen Arbeit zunehmend an Bedeutung gewonnen. Aber was genau verstehen wir unter EBP und warum ist sie für Fachkräfte in der Sozialen Arbeit so wichtig?

EBP ist ein Ansatz, der darauf abzielt, die bestmöglichen wissenschaftlichen Erkenntnisse mit der klinischen Expertise der Fachkraft und den Werten und Präferenzen der Klienten zu verbinden, um fundierte Entscheidungen in der Praxis zu treffen. In der Sozialen Arbeit gibt es zwei Hauptansätze der EBP:

  1. Der Prozess der EBP: Hierbei geht es darum, aktuelle Forschungsergebnisse systematisch zu suchen, zu bewerten und in die Praxis zu integrieren.
  2. Empirisch unterstützte Hilfen (ESTs): Dies sind spezifische Interventionen, die aufgrund von Forschungsergebnissen als wirksam gelten.

Der Kontext: EBP in der Sozialen Arbeit

Die Einführung von EBP in die Soziale Arbeit ist Teil einer breiteren Bewegung hin zu evidenzbasierter Praxis in verschiedenen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesens. Ursprünglich aus der Medizin stammend, hat sich EBP in den letzten Jahrzehnten auch in der Sozialen Arbeit etabliert.

Die Grundidee ist einfach: Sozialarbeiter sollen ihre Entscheidungen auf der Grundlage der besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse treffen, anstatt sich ausschließlich auf Intuition, Erfahrung oder Tradition zu verlassen. Dies soll zu effektiveren Interventionen und besseren Ergebnissen für die Klienten führen.

Allerdings ist die Umsetzung von EBP in der Sozialen Arbeit nicht ohne Herausforderungen. Im Gegensatz zur Medizin, wo randomisierte kontrollierte Studien oft als „Goldstandard“ gelten, ist die Forschung in der Sozialen Arbeit oft komplexer und kontextabhängiger. Soziale Probleme sind oft multifaktoriell bedingt und Interventionen müssen an individuelle und kulturelle Gegebenheiten angepasst werden.

Kritik an EBP in der Sozialen Arbeit

Die Einführung von EBP in die Soziale Arbeit hat auch Kritik hervorgerufen. Einige der Hauptkritikpunkte sind:

  1. Reduzierung der professionellen Autonomie: Kritiker argumentieren, dass EBP die Rolle der professionellen Urteilskraft und Erfahrung von Sozialarbeitern untergräbt.
  2. Vernachlässigung qualitativer Forschung: EBP wird oft mit quantitativen Forschungsmethoden in Verbindung gebracht, was zu einer Vernachlässigung wertvoller qualitativer Erkenntnisse führen kann.
  3. Kontextuelle Faktoren: Die Übertragbarkeit von Forschungsergebnissen auf spezifische Praxiskontexte wird in Frage gestellt.
  4. Ethische Bedenken: Es gibt Bedenken, dass EBP zu einer „Einheitslösung“ führen könnte, die die individuellen Bedürfnisse und Werte der Klienten nicht ausreichend berücksichtigt.
  5. Ressourcen und Zugänglichkeit: Nicht alle Sozialarbeiter haben Zugang zu aktuellen Forschungsergebnissen oder die Zeit, diese gründlich zu analysieren.

Trotz dieser Kritikpunkte sehen viele Experten EBP als einen wichtigen Weg zur Verbesserung der Qualität und Effektivität der Sozialen Arbeit. Die Herausforderung besteht darin, EBP auf eine Weise zu implementieren, die diese Bedenken berücksichtigt und die spezifischen Anforderungen der Sozialen Arbeit respektiert.

Die Bedeutung der EBP-Ausbildung

Angesichts der Komplexität von EBP wird deutlich, wie wichtig eine fundierte Ausbildung für Sozialarbeiter ist. Sie müssen nicht nur lernen, wie man Forschungsergebnisse findet und bewertet, sondern auch, wie man diese Erkenntnisse sinnvoll in die Praxis integriert und dabei die individuellen Bedürfnisse der Klienten berücksichtigt.

Trotz der zunehmenden Bedeutung von EBP zeigen Studien, dass viele Sozialarbeiter Schwierigkeiten haben, EBP in ihren Arbeitsalltag zu integrieren. Spensberger et al. (2020) verweisen in ihrer systematischen Übersichtsarbeit auf mehrere Untersuchungen, die diese Problematik beleuchten. So zeigte eine Studie von Parrish und Rubin (2012), dass nur ein geringer Prozentsatz der befragten Sozialarbeiter regelmäßig alle Schritte des EBP-Prozesses in ihrer Praxis anwendet.

Gründe für diese Schwierigkeiten sind vielfältig und umfassen unter anderem mangelnde Kenntnisse und Fähigkeiten, unzureichende Vorbereitung während der Ausbildung und negative Einstellungen gegenüber EBP (Bellamy et al., 2006, zitiert nach Spensberger et al., 2020).

Haupterkenntnisse der Studie

1. Lernansätze und Wissensanwendung

Die Studie zeigt, dass die meisten Schulungen zu EBP in der Sozialen Arbeit einen gemischten Ansatz verfolgen, der sowohl lehrer- als auch schülerzentrierte Elemente enthält. Etwa 74% der untersuchten Bildungsinterventionen beinhalteten zumindest teilweise schülerzentrierte Elemente.

Besonders interessant ist, dass fast die Hälfte der Studien (48,2%) die Anwendung des Gelernten in der realen Praxis erforderten. Dies ist ein wichtiger Punkt, da die Anwendung von Wissen in realen Situationen oft als entscheidend für den Lernerfolg angesehen wird.

2. Effekte der Bildungsinterventionen

Die Ergebnisse der Studie zeigen überwiegend positive Effekte der Bildungsinterventionen, sowohl für den EBP-Prozess als auch für ESTs. Besonders hervorzuheben sind:

  • Verbessertes prozedurales Wissen (Wissen darüber, wie man etwas tut)
  • Erhöhte Motivation zur Anwendung von EBP
  • Hohe Zufriedenheit der Teilnehmer mit den Schulungen

Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass die meisten dieser Effekte auf Selbsteinschätzungen der Teilnehmer basieren und nicht durch objektive Leistungsmessungen bestätigt wurden.

3. Methodische Qualität der Studien

Ein kritischer Punkt der Übersichtsarbeit betrifft die methodische Qualität der untersuchten Studien:

  • Nur etwa ein Fünftel der Studien verwendete ein kontrolliertes Design, das einen Vergleich verschiedener Lehrmethoden ermöglicht.
  • Die Mehrheit der Studien basierte auf Selbsteinschätzungen der Teilnehmer statt auf objektiven Leistungsmessungen.
  • Über die Hälfte der Studien wiesen ein hohes Risiko für Verzerrungen auf.

Spensberger et al. (2020) verweisen in ihrer Übersichtsarbeit auf eine Beobachtung von Yaffe (2013), wonach die meisten Evaluationsstudien in der Sozialarbeitsausbildung kein kontrolliertes Design verwenden. Diese methodische Schwäche unterstreicht die Notwendigkeit weiterer Forschung in diesem Bereich.

Implikationen für die Praxis

Was bedeuten diese Erkenntnisse nun für Fachkräfte und Ausbilder in der Sozialen Arbeit?

  1. Praxisorientierte Schulungen: Die Ergebnisse legen nahe, dass Schulungen, die eine Anwendung des Gelernten in der Praxis ermöglichen, besonders effektiv sein könnten. Fachkräfte sollten nach Möglichkeit Fortbildungen wählen, die solche praktischen Elemente beinhalten.
  2. Kritisches Denken fördern: Basierend auf früheren Studien empfehlen die Autoren, Aspekte des kritischen Denkens in EBP-Schulungen zu integrieren. Dies könnte Fachkräften helfen, Forschungsergebnisse besser zu bewerten und in ihre Praxis zu integrieren.
  3. Vielfältige Lehrmethoden: Schulungen, die verschiedene Methoden kombinieren (z.B. Vorlesungen, Computersitzungen, Kleingruppendiskussionen, Journal Clubs und Aufgaben), scheinen besonders vielversprechend zu sein.
  4. Kontinuierliche Evaluation: Angesichts der methodischen Schwächen vieler Studien ist es wichtig, die Wirksamkeit von EBP-Schulungen kontinuierlich zu evaluieren. Dies könnte durch die Implementierung von Leistungsmessungen in der realen Praxis geschehen.
  5. Förderung einer EBP-Kultur: Neben individuellen Schulungen ist es wichtig, eine Kultur der evidenzbasierten Praxis in Organisationen der Sozialen Arbeit zu fördern. Dies könnte die nachhaltige Implementierung von EBP unterstützen.

Vorteile der EBP-Integration in die Soziale Arbeit

Trotz der genannten Herausforderungen und Kritikpunkte bietet die Integration von EBP in die Soziale Arbeit erhebliche Vorteile:

  1. Verbesserte Wirksamkeit von Interventionen: Durch die Nutzung von Forschungsergebnissen können Sozialarbeiter Interventionen wählen, die mit höherer Wahrscheinlichkeit positive Ergebnisse für ihre Klienten erzielen.
  2. Erhöhte Transparenz und Rechenschaftspflicht: EBP ermöglicht es Sozialarbeitern, ihre Entscheidungen gegenüber Klienten, Kollegen und Geldgebern besser zu begründen.
  3. Kontinuierliche professionelle Entwicklung: Die regelmäßige Auseinandersetzung mit aktueller Forschung fördert das lebenslange Lernen und die ständige Verbesserung der professionellen Praxis.
  4. Verbesserung der Qualität der Sozialen Arbeit: Durch die Integration von Forschungsergebnissen kann die allgemeine Qualität der Dienstleistungen in der Sozialen Arbeit verbessert werden.
  5. Stärkung der Profession: Die Anwendung von EBP kann dazu beitragen, die Soziale Arbeit als wissenschaftlich fundierte Profession zu etablieren und ihr Ansehen zu stärken.
  6. Kosteneffizienz: Durch die Fokussierung auf nachweislich wirksame Interventionen können Ressourcen effizienter eingesetzt werden.
  7. Ethische Praxis: EBP unterstützt eine ethische Praxis, indem sie sicherstellt, dass Klienten die bestmögliche, auf Evidenz basierende Unterstützung erhalten.
  8. Brücke zwischen Forschung und Praxis: EBP fördert den Austausch zwischen Forschern und Praktikern, was zu praxisrelevanterer Forschung und forschungsinformierterer Praxis führen kann.

Diese Vorteile verdeutlichen, warum es so wichtig ist, effektive Wege zu finden, um EBP in der Ausbildung und Fortbildung von Sozialarbeitern zu vermitteln. Die von Spensberger et al. identifizierten Ansätze – praxisorientierte Schulungen, Förderung kritischen Denkens, vielfältige Lehrmethoden und kontinuierliche Evaluation – bieten einen vielversprechenden Rahmen, um diese Vorteile zu realisieren.

Fazit

Die Übersichtsarbeit von Spensberger et al. (2020) liefert wichtige Erkenntnisse zur Lehre von EBP in der Sozialen Arbeit. Sie zeigt, dass praxisorientierte, vielfältige Schulungsansätze vielversprechend sind, weist aber auch auf den Bedarf an methodisch hochwertiger Forschung in diesem Bereich hin.

Für Fachkräfte in der Sozialen Arbeit unterstreicht die Studie die Bedeutung von kontinuierlicher Fortbildung und kritischem Denken im Bereich EBP. Gleichzeitig macht sie deutlich, dass die Integration von EBP in die Praxis eine komplexe Aufgabe ist, die über einzelne Schulungen hinausgeht und eine umfassende Veränderung in der Kultur der Sozialen Arbeit erfordert.

Die Herausforderung besteht darin, EBP auf eine Weise zu implementieren, die die spezifischen Anforderungen und ethischen Grundsätze der Sozialen Arbeit respektiert. Dies erfordert einen ausgewogenen Ansatz, der wissenschaftliche Evidenz mit professioneller Expertise und den individuellen Bedürfnissen und Werten der Klienten in Einklang bringt.

Als nächste Schritte wären Studien wünschenswert, die die Wirksamkeit verschiedener Lehrmethoden direkt vergleichen und dabei objektive Leistungsmessungen in realen Praxissituationen einsetzen. Zudem sollten zukünftige Forschungen untersuchen, wie EBP-Schulungen die tatsächliche Praxis von Sozialarbeitern beeinflussen und welche Auswirkungen dies auf die Ergebnisse für die Klienten hat.

Nur so können wir langfristig sicherstellen, dass Fachkräfte in der Sozialen Arbeit optimal auf die Anwendung von EBP vorbereitet werden – zum Wohle ihrer Klienten und der Profession insgesamt. Die Integration von EBP in die Soziale Arbeit ist kein einfacher Prozess, aber sie bietet das Potenzial, die Qualität und Wirksamkeit der Sozialen Arbeit erheblich zu verbessern und damit einen wichtigen Beitrag zur Lösung komplexer sozialer Probleme zu leisten.

Schlüsselelemente effektiver EBP-Schulungen Effektive EBP-Schulungen Praxisorientierte Anwendung Kritisches Denken Vielfältige Lehrmethoden Kontinuierliche Evaluation

Die Infografik stellt die vier Schlüsselelemente effektiver EBP-Schulungen in der Sozialen Arbeit dar, die in der systematischen Übersichtsarbeit von Spensberger et al. (2020) identifiziert wurden. Sie ist als kreisförmiges Diagramm konzipiert, um die Verbundenheit und Gleichwertigkeit der Elemente zu verdeutlichen.

Im Zentrum der Grafik befindet sich ein großer Kreis mit der Aufschrift „Effektive EBP-Schulungen“. Um diesen zentralen Kreis herum sind vier kleinere Kreise angeordnet, die jeweils ein Schlüsselelement repräsentieren:

  1. Praxisorientierte Anwendung (oben links, orange): Dies betont die Wichtigkeit, das Gelernte in realen oder simulierten Praxissituationen anzuwenden.
  2. Kritisches Denken (oben rechts, grün): Dieses Element unterstreicht die Bedeutung der Förderung kritischer Denkfähigkeiten bei den Lernenden, um Forschungsergebnisse angemessen zu bewerten und anzuwenden.
  3. Vielfältige Lehrmethoden (unten links, rot): Hier wird die Notwendigkeit verschiedener Lehransätze hervorgehoben, um unterschiedliche Lernstile und -bedürfnisse zu berücksichtigen.
  4. Kontinuierliche Evaluation (unten rechts, lila): Dieses Element betont die Wichtigkeit fortlaufender Bewertung und Anpassung der Schulungsmethoden.

Alle vier Elemente sind durch Linien mit dem zentralen Kreis verbunden, um ihre Bedeutung für effektive EBP-Schulungen zu verdeutlichen. Die Verwendung verschiedener Farben für jedes Element erhöht die visuelle Attraktivität und Einprägsamkeit der Grafik.

Diese Infografik bietet einen schnellen und eingängigen Überblick über die Kernelemente effektiver EBP-Schulungen und kann als nützliches Hilfsmittel für Ausbilder und Praktiker in der Sozialen Arbeit dienen.

Literaturverzeichnis

Spensberger, F., Kollar, I., Gambrill, E., Ghanem, C., & Pankofer, S. (2020). How to teach evidence-based practice in social work: A systematic review. Research on Social Work Practice, 30(1), 19-39. https://doi.org/10.1177/1049731519852150

Yaffe, J. (2013). Where’s the evidence for social work education? Journal of Social Work Education, 49(4), 525-527. https://doi.org/10.1080/10437797.2013.820582