Dieser Blogbeitrag basiert auf: Guzman-Holst, C., Davis, R. S., Andrews, J. L. & Foulkes, L. (2025). Scoping review: potential harm from school-based group mental health interventions. Child and Adolescent Mental Health, 30(3), 208–222, sowie: Department for Education (2025). Effectiveness of school mental health awareness interventions. Government Social Research Report.

Einleitung

In einer Zeit, in der psychische Gesundheitsprobleme bei Kindern und Jugendlichen zunehmen, setzen Schulen weltweit vermehrt auf präventive Mental-Health-Programme. Schulen erscheinen als idealer Ort für solche Interventionen: Hier verbringen junge Menschen einen Großteil ihrer Zeit, und universelle Programme können eine große Zahl von Schülerinnen und Schülern erreichen. Doch wie wirksam sind diese gut gemeinten Maßnahmen wirklich? Und was passiert, wenn sie nicht wie erwartet funktionieren – oder sogar schaden?

Zwei aktuelle Forschungsarbeiten aus dem Jahr 2025 werfen ein differenziertes Licht auf diese Fragen. Ein Scoping Review der Universität Oxford (Guzman-Holst et al., 2025) analysierte systematisch über 30 Jahre Forschung zu potenziellen Schäden durch schulbasierte Mental-Health-Interventionen. Parallel dazu veröffentlichte das britische Department for Education die Ergebnisse der AWARE-Studie – einer der größten randomisierten kontrollierten Studien zu schulischen Mental-Health-Awareness-Programmen in England. Die Befunde beider Studien sind für Fachkräfte in der Prävention und Gesundheitsförderung von erheblicher Bedeutung, da sie etablierte Annahmen infrage stellen und wichtige Implikationen für die Praxis aufzeigen.

Zentrale Erkenntnisse

1. Negative Ergebnisse sind keine Seltenheit – besonders in qualitativ hochwertigen Studien

Die Ergebnisse des Scoping Reviews von Guzman-Holst und Kolleginnen sind ernüchternd: Von 112 untersuchten Interventionen, die auf kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) und/oder Achtsamkeitstechniken basierten, berichteten 8,93 % mindestens ein negatives Ergebnis (Guzman-Holst et al., 2025). Besonders bemerkenswert ist, dass dieser Anteil bei methodisch hochwertigen Studien mit geringem Verzerrungsrisiko auf 33,33 % anstieg. Dies deutet darauf hin, dass negative Effekte in weniger rigorosen Studien möglicherweise untererfasst werden.

Die negativen Ergebnisse umfassten dabei ein breites Spektrum: Zunahme von depressiven Symptomen, Angstsymptomen und emotionalen Schwierigkeiten, Abnahme von Wohlbefinden, Lebenszufriedenheit und Achtsamkeit, Verschlechterung bei prosozialem Verhalten und dysfunktionale Kognitionen im Zusammenhang mit Depression. Die AWARE-Studie bestätigt diese Befunde eindrücklich: Sowohl das Programm Youth Aware of Mental Health (YAM) als auch The Mental Health and High School Curriculum Guide (The Guide) führten bei längerfristiger Betrachtung zu erhöhten emotionalen Schwierigkeiten bei den teilnehmenden Jugendlichen – 9 bis 12 Monate nach Interventionsende zeigten sich statistisch signifikante Verschlechterungen im Vergleich zur Kontrollgruppe (Department for Education, 2025).

2. Bestimmte Subgruppen sind besonders gefährdet

Ein zentrales Ergebnis beider Studien ist die Identifikation von Risikogruppen, bei denen schulbasierte Mental-Health-Interventionen eher schaden als nutzen könnten. Die Forschungsgruppe um Guzman-Holst stellte fest, dass in 55 % der Studien mit negativen Ergebnissen diese in Subgruppenanalysen identifiziert wurden. Zu den besonders vulnerablen Gruppen gehörten: Jugendliche mit bereits erhöhtem Risiko für psychische Probleme, männliche Teilnehmer, jüngere Kinder sowie Kinder aus einkommensschwachen Familien (gemessen an der Berechtigung für kostenlose Schulmahlzeiten).

Die AWARE-Studie ergänzt diese Befunde um einen wichtigen Aspekt: YAM führte insbesondere in Schulen ohne vorherige universelle Mental-Health-Programme zu erhöhten emotionalen Schwierigkeiten (Department for Education, 2025). Diese Erkenntnis ist für die Praxis von großer Relevanz, da sie nahelegt, dass das Einführen von Mental-Health-Awareness-Programmen ohne entsprechende Vorbereitungen oder begleitende Unterstützungsstrukturen kontraproduktiv sein kann. Schulen, die weniger Erfahrung mit der Förderung von Mental Health Literacy haben, scheinen weniger gut gerüstet zu sein, um mit den möglichen Folgen einer erhöhten Aufmerksamkeit für psychische Probleme umzugehen.

3. Die Mechanismen negativer Effekte bleiben weitgehend ungeklärt

Ein beunruhigender Befund des Scoping Reviews ist, dass 45,5 % der Studien mit negativen Ergebnissen keine direkten Erklärungen dafür lieferten, warum die Interventionsgruppe schlechter abschnitt als die Kontrollgruppe. Die vorgeschlagenen Erklärungen in den übrigen Studien lassen sich in drei Kategorien einteilen:

  • Erhöhte Awareness ohne ausreichende Bewältigungsstrategien: KVT- und Achtsamkeitsbasierte Programme können dazu führen, dass Jugendliche sich ihrer negativen Gedanken und Gefühle stärker bewusst werden, ohne gleichzeitig ausreichende Strategien zu erlernen, diese zu bewältigen. Stoppelbein (2003) merkte etwa an, dass ein Programm Teilnehmende lehrte, sich negativer Kognitionen bewusst zu werden, aber erst in den letzten Sitzungen vermittelte, wie diese hinterfragt werden können.
  • Sozialer Vergleich und Selbstfokus: Seely und Kollegen (2023) schlugen vor, dass Interventionen einen iatrogenen Effekt haben könnten, wenn Teilnehmende, die nicht von der Intervention profitieren, sich negativ mit anderen vergleichen. Der starke Fokus auf die eigenen Kognitionen und Verhaltensweisen könnte zudem weniger Aufmerksamkeit für prosoziales Verhalten übrig lassen.
  • Genauere Selbsteinschätzung statt echter Verschlechterung: Einige Autoren vermuteten, dass die negativen Ergebnisse eine verbesserte Fähigkeit zur Selbsterkennung widerspiegeln könnten – die Teilnehmenden berichten Symptome genauer, nicht weil es ihnen schlechter geht, sondern weil sie diese besser erkennen. Diese Interpretation ist jedoch problematisch, da sie nicht erklärt, warum solche Effekte nur in der Interventionsgruppe auftreten (Guzman-Holst et al., 2025).

4. Vollständige Implementierung ist entscheidend – aber nicht immer ausreichend

Die AWARE-Studie liefert wichtige Erkenntnisse zur Implementierung: YAM zeigte nur dann positive Effekte auf emotionale Schwierigkeiten, wenn alle fünf vorgesehenen Sitzungen durchgeführt wurden. In der Hauptanalyse, die alle Schulen einschloss – auch jene, die das Programm nicht vollständig umsetzten – fand sich kein signifikanter Effekt. Auch bei The Guide verstärkte die vollständige Durchführung aller sechs Sitzungen die positiven Effekte auf das intendierte Hilfesuchverhalten (Department for Education, 2025). Allerdings zeigt die Studie auch: Selbst bei vollständiger Implementierung können langfristig negative Effekte auftreten. Dies unterstreicht, dass Implementation Fidelity zwar notwendig, aber nicht hinreichend für den Erfolg einer Intervention ist.

Praktische Implikationen für die Prävention und Gesundheitsförderung

Die vorgestellten Forschungsergebnisse haben weitreichende Konsequenzen für die Praxis der schulischen Prävention und Gesundheitsförderung:

Kritische Evaluation etablierter Programme: Die Tatsache, dass sowohl YAM als auch The Guide – beide international getestete und als wirksam geltende Programme – in englischen Schulen nicht die erhofften Ergebnisse erzielten, mahnt zur Vorsicht bei der Übertragung von Interventionen in neue Kontexte. Programme sollten vor einer breiten Implementierung in lokalen Settings rigoros evaluiert werden.

Monitoring langfristiger Effekte: Beide Studien betonen die Notwendigkeit, Outcomes nicht nur kurzfristig, sondern auch 9-12 Monate nach Interventionsende zu erfassen. Positive Kurzfrist-Effekte (wie bei The Guide auf Hilfesuchverhalten und Mental Health Literacy) können durch negative Langzeit-Effekte aufgewogen oder übertroffen werden.

Differenzierte Ansätze statt One-Size-Fits-All: Die Befunde zu vulnerablen Subgruppen legen nahe, dass universelle Interventionen nicht für alle Schülerinnen und Schüler gleichermaßen geeignet sind. Guzman-Holst et al. (2025) schlagen einen Ansatz des „proportionate universalism“ vor: Interventionen sollten universell zugänglich sein, aber in Intensität und Umfang an den Bedarf der jeweiligen Zielgruppe angepasst werden. Alternativ könnten Schulen Systeme zur Triage entwickeln, bei denen Jugendliche basierend auf ihren Ausgangswerten und Präferenzen verschiedenen Interventionsformaten zugewiesen werden.

Aufbau begleitender Unterstützungsstrukturen: Die Erkenntnis, dass YAM insbesondere in Schulen ohne vorherige Mental-Health-Programme negative Effekte zeigte, unterstreicht die Bedeutung eines schrittweisen Aufbaus von Kompetenzen und Strukturen. Bevor Mental-Health-Awareness-Programme eingeführt werden, sollten Schulen sicherstellen, dass ausreichende Unterstützungsangebote für Schülerinnen und Schüler vorhanden sind, die durch erhöhte Awareness möglicherweise aktiviert werden.

Transparente Kommunikation von Grenzen: Fachkräfte sollten realistische Erwartungen an schulbasierte Interventionen kommunizieren. Diese können Teil einer umfassenden Präventionsstrategie sein, werden aber allein nicht ausreichen, um den beobachteten Anstieg psychischer Probleme bei Jugendlichen zu adressieren. Strukturelle Faktoren, familiäre Unterstützung und individuelle Behandlungsangebote bleiben unverzichtbar.

Fazit

Die hier vorgestellten Forschungsarbeiten markieren einen wichtigen Wendepunkt im Diskurs über schulbasierte Mental-Health-Interventionen. Sie zeigen, dass gut gemeinte Programme nicht automatisch gut sind – und dass wir als Fachgemeinschaft die kritische Auseinandersetzung mit potenziellen Schäden intensivieren müssen.

Für die Praxis der Prävention und Gesundheitsförderung ergeben sich daraus mehrere zentrale Botschaften: Erstens sollten Programme nicht allein aufgrund positiver Ergebnisse aus anderen Ländern übernommen werden, sondern vor Ort evaluiert werden. Zweitens müssen Langzeit-Outcomes systematisch erfasst werden. Drittens brauchen wir differenzierte Ansätze, die der Heterogenität junger Menschen gerecht werden. Und viertens sollte die Einführung von Mental-Health-Awareness-Programmen von ausreichenden Unterstützungsstrukturen flankiert werden.

Das Scoping Review von Guzman-Holst et al. (2025, S. 219) bringt es auf den Punkt: „Mental-Health-Unterricht für alle jungen Menschen ist möglicherweise weder nützlich noch angemessen“ (eigene Übersetzung). Diese Aussage ist nicht als pauschale Ablehnung schulischer Prävention zu verstehen, sondern als Aufruf zu mehr Differenzierung, Sorgfalt und wissenschaftlicher Demut. Die psychische Gesundheit junger Menschen ist zu wichtig, um sie mit unzureichend evaluierten Programmen zu gefährden.

Literatur

Department for Education. (2025). Effectiveness of school mental health awareness interventions: Universal approaches in English secondary schools. Government Social Research Report RR1489.

Guzman-Holst, C., Davis, R. S., Andrews, J. L. & Foulkes, L. (2025). Scoping review: potential harm from school-based group mental health interventions. Child and Adolescent Mental Health, 30(3), 208–222. https://doi.org/10.1111/camh.12760

Seely, H. D., Gaskins, J., Pössel, P. & Hautzinger, M. (2023). Comprehensive prevention: An evaluation of peripheral outcomes of a school-based prevention program. Research on Child and Adolescent Psychopathology, 51, 921–936.

Stoppelbein, L. (2003). Primary prevention: An evaluation of a high-school based cognitive behavioral program [Doctoral dissertation, University of Alabama].

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