Dieser Blogbeitrag basiert auf dem wissenschaftlichen Artikel „Effects of student participation in school health promotion: a systematic review“ von Griebler et al. (2017), veröffentlicht in Health Promotion International.

1. Hintergrund

Die Partizipation von Kindern und Jugendlichen hat seit der Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention 1989 zunehmend an Bedeutung gewonnen. Artikel 12 dieser Konvention betont das Recht von Kindern, in allen sie betreffenden Angelegenheiten gehört zu werden und ihre Meinung frei zu äußern. Im Bereich der Gesundheitsförderung wird Partizipation seit der Ottawa-Charta von 1986 als Schlüsselkomponente betrachtet.

Die Ottawa-Charta definiert Gesundheitsförderung als „Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen“ (WHO, 1986). Partizipation wird dabei als wesentlich angesehen.

Im schulischen Kontext hat sich das Konzept der „Gesundheitsfördernden Schule“ etabliert, das einen systemischen Ansatz verfolgt und die aktive Einbeziehung aller Beteiligten, einschließlich der Schüler, betont. Trotz eines breiten Konsenses über die Wichtigkeit von Partizipation bleibt die empirische Evidenz für ihre Wirksamkeit begrenzt.

Vor diesem Hintergrund führten Griebler et al. (2017) eine systematische Übersichtsarbeit durch, um die vorhandene Evidenz zu den Effekten der Schülerpartizipation in der schulischen Gesundheitsförderung zusammenzufassen und zu analysieren.

2. Zentrale Definitionen und Konzepte

2.1 Schülerpartizipation

Die Autoren definieren dies als Praktiken, die eine Zusammenarbeit zwischen Schülern und verschiedenen Akteursgruppen in gesundheitsbezogenen Fragen beinhalten, um Entscheidungsprozesse bei der Gestaltung, Planung, Durchführung oder Evaluation von Gesundheitsförderungsmaßnahmen zu beeinflussen (Potvin, 2007 nach Griebler et al., 2017). Wichtig ist dabei die Unterscheidung zwischen echter und symbolischer Partizipation: Echte Partizipation bedeutet, tatsächlich Einfluss auf Entscheidungen und Aktivitäten zu haben, nicht nur daran teilzunehmen (Simovska, 2007; Hart, 2008 nach Griebler et al., 2017).

2.2 Gesundheitsförderungsmaßnahmen in Schulen

Hierunter verstehen die Autoren Projekte, Programme, Interventionen oder andere schulbasierte Initiativen mit dem Ziel, Gesundheit, Gesundheitsverhalten, gesundheitsbezogene Kompetenzen oder andere soziale und materielle Gesundheitsdeterminanten für Schüler oder andere schulbezogene Akteure günstig zu beeinflussen.

2.3 Effekte der Schülerpartizipation

Diese werden definiert als Outcomes, die durch empirische – quantitative oder qualitative – Maßnahmen (z.B. Fragebögen, Interviews, Beobachtungen) nachgewiesen und eindeutig auf die Partizipation von Schülern an der Gestaltung, Planung, Durchführung oder Evaluation einer Gesundheitsförderungsmaßnahme zurückgeführt werden können.

2.4 Handlungskompetenz (Action Competence)

Ein zentrales Konzept in der Studie ist „Action Competence“, das hier als „Handlungskompetenz“ übersetzt wird. Es beschreibt die Fähigkeit eines Individuums, gesundheitsförderliche Veränderungen im eigenen Leben und Umfeld zu bewirken. Dieses Konzept umfasst nicht nur Wissen und Fähigkeiten, sondern auch die Motivation und das Selbstvertrauen, aktiv zu werden und Veränderungen anzustoßen (Jensen, 1997 nach Griebler et al., 2017). Handlungskompetenz geht über individuelles Gesundheitsverhalten hinaus und beinhaltet auch die Fähigkeit, kritisch über die Ursachen von Gesundheitsproblemen zu reflektieren und kollektiv auf Veränderungen hinzuwirken.

3. Methodik

3.1 Suchstrategie

Die Autoren führten eine umfassende Literaturrecherche durch, die folgende Schritte umfasste:

  1. Suche in elektronischen Datenbanken: ASSIA, ERIC, PsycINFO, Scopus, PubMed und Social Sciences Citation Index. Es wurden Suchbegriffe wie „student*“, „participation“, „school“, „decision making“ und „health promotion“ in verschiedenen Kombinationen verwendet.
  2. Handsuche in ausgewählten Zeitschriften
  3. Überprüfung von Referenzlisten
  4. Kontaktaufnahme mit Experten

3.2 Ein- und Ausschlusskriterien

Einschlusskriterien:

  • Empirische Studien zur Schülerpartizipation bei Entscheidungsprozessen in schulischen Gesundheitsförderungsmaßnahmen
  • Veröffentlichung zwischen 1992 und September 2010
  • Publikationen in englischer, deutscher oder dänischer Sprache
  • Zielgruppe: Kinder und Jugendliche im Alter von 5-19 Jahren an Grund- oder weiterführenden Schulen
  • Setting: Schule
  • Messung von Effekten der Schülerpartizipation

Ausschlusskriterien:

  • Nicht-empirische Studien
  • Partizipation anderer Populationen (z.B. Universitätsstudenten, Kindergartenkinder)
  • Studien, die lediglich Partizipationsraten oder Interventionen zur Erhöhung der Partizipation beschreiben, ohne Einbeziehung von Schülern in Planung oder Organisation

3.3 Studienauswahl und Datenextraktion

Zwei Forscher überprüften unabhängig voneinander Abstracts und Volltexte auf Eignung. Meinungsverschiedenheiten wurden durch Diskussion oder Hinzuziehung eines dritten Forschers gelöst. Zur Datenextraktion wurden strukturierte Formulare verwendet.

3.4 Qualitätsbewertung

Die Qualität der eingeschlossenen Studien wurde anhand von Checklisten für qualitative und quantitative Studien bewertet. Kriterien umfassten unter anderem die Klarheit der Forschungsfrage, die Angemessenheit des Forschungsansatzes und die Beschreibung von Stichprobe, Datenerhebung und -analyse.

3.5 Datenanalyse

Die Autoren verwendeten eine integrative Synthese basierend auf der qualitativen Textinterpretationsmethode nach Mayring (2000 nach Griebler et al., 2017). Dieser Ansatz ermöglicht die induktive Entwicklung von Kategorien aus den Daten in einem iterativen Prozess.

4. Ergebnisse

Von 5075 gescreenten Abstracts erfüllten 26 Publikationen (24 Studien/Projekte) die Einschlusskriterien. Die Autoren teilten die Studien in drei Gruppen ein:

  1. Studien mit experimentellem Design und Vergleichsgruppe (n=5)
  2. Studien zur Partizipation von Schülern in verschiedenen Phasen der Intervention (n=11)
  3. Studien mit spezifischen partizipativen Ansätzen (n=8)

Die Hauptergebnisse lassen sich in sieben Metakategorien zusammenfassen:

4.1 Persönliche Effekte auf Schüler (18 Studien):

  • Zufriedenheit, Motivation, Ownership
  • Fähigkeiten, Kompetenzen, Wissen
  • Persönliche Entwicklung
  • Gesundheitsbezogene Effekte
  • Veränderung der Perspektiven
  • Nützlichkeit für das Leben im Allgemeinen

4.2 Effekte auf die Schule als Organisation (11 Studien):

  • Kultureller Wandel
  • Verbesserung der Schulinfrastruktur
  • Anpassung von Schulregeln und -richtlinien
  • Veränderungen im Lehrplan

4.3 Effekte auf Interaktionen und Beziehungen (9 Studien):

  • Verbesserte Beziehungen zwischen Gleichaltrigen
  • Verbesserte Schüler-Erwachsenen-Beziehungen
  • Anerkennung und Wertschätzung

4.4 Effekte auf andere Stakeholder (6 Studien):

  • Zufriedenheit mit dem Prozess
  • Arbeitsentlastung für Lehrer
  • Informationsverbreitung

4.5 Negative Effekte (6 Studien):

  • Gefühl, ignoriert oder nicht ernst genommen zu werden
  • Überforderung durch Partizipation

4.6 Effekte auf das Programm/Projekt (4 Studien):

  • Bessere Inklusivität des Programms
  • Orientierung an lokalen Bedürfnissen

4.7 Effekte auf die lokale Gemeinschaft (1 Studie)

Nur eine Studie berichtete von positiven Veränderungen in der lokalen Gemeinschaft als Ergebnis partizipativer Gesundheitsförderung in der Schule. Dies umfasste die Schaffung neuer und/oder die Verbesserung bestehender Möglichkeiten für körperliche Aktivität.

5. Diskussion

5.1 Haupterkenntnisse

Die Ergebnisse dieser systematischen Übersicht liefern wichtige Evidenz für die Effekte der Schülerpartizipation in der schulischen Gesundheitsförderung. Besonders hervorzuheben ist die Entwicklung von „Handlungskompetenz“ bei den Schülern, die sich in verbesserten Fähigkeiten, Kompetenzen und der Motivation zur aktiven Gestaltung ihrer Gesundheit zeigt.

5.2 Limitationen

  • Geringe Anzahl eingeschlossener Studien (26 Publikationen) begrenzt die Generalisierbarkeit der Ergebnisse.
  • Heterogenität der Studien in Bezug auf Designs, Kontexte und Messungen erschwert direkte Vergleiche.
  • Fokus auf Publikationen in englischer, deutscher und dänischer Sprache kann relevante Studien aus anderen Sprachräumen ausgeschlossen haben.
  • Keine Aussagen über Langzeiteffekte oder Nachhaltigkeit der beobachteten Wirkungen möglich.
  • Unklarheit darüber, inwieweit die Effekte auf die Mehrheit der Schüler oder nur auf die direkt partizipierenden Schüler zutreffen.
  • Mangelnde Differenzierung zwischen verschiedenen Formen und Intensitäten der Partizipation.

Diese Limitationen verdeutlichen die Komplexität der Evaluation partizipativer Ansätze in der schulischen Gesundheitsförderung. Die begrenzte Anzahl und Heterogenität der Studien erschweren es, allgemeingültige Schlussfolgerungen zu ziehen. Zudem bleibt unklar, wie nachhaltig die beobachteten Effekte sind und inwieweit sie auf die breitere Schülerpopulation übertragen werden können. Die mangelnde Differenzierung zwischen verschiedenen Partizipationsformen und -intensitäten lässt offen, welche spezifischen Aspekte der Partizipation besonders wirksam sind. Diese Einschränkungen unterstreichen die Notwendigkeit weiterer, methodisch rigoroser Forschung in diesem Bereich, um ein umfassenderes und differenzierteres Bild der Wirksamkeit von Schülerpartizipation in der Gesundheitsförderung zu erhalten.

5.3 Vergleich mit anderen Studien

Die Ergebnisse stehen im Einklang mit früheren Übersichtsarbeiten zur Effektivität von Gesundheitsförderung in Schulen (z.B. Stewart-Brown, 2006 nach Griebler et al., 2017), die die Bedeutung von Schülerpartizipation und systemische Ansätzen betonen.

5.4 Implikationen für die Praxis

  • Partizipative Ansätze sollten in schulische Gesundheitsförderungsprogramme integriert werden.
  • Besondere Aufmerksamkeit sollte der Entwicklung von „Handlungskompetenz“ gewidmet werden.
  • Partizipation sollte als kontinuierlicher Prozess verstanden werden, nicht als einmalige Intervention.
  • Potenzielle negative Effekte müssen bei der Planung und Durchführung berücksichtigt werden.

5.5 Forschungsbedarf

  • Langzeitstudien zur Nachhaltigkeit der Effekte
  • Untersuchungen zu optimalen Formen und Intensitäten der Partizipation
  • Studien zur Übertragbarkeit partizipativer Ansätze in verschiedene kulturelle und schulische Kontexte
  • Forschung zu den Mechanismen, durch die Partizipation zu positiven Effekten führt

6. Fazit

Die systematische Übersicht von Griebler et al. (2017) liefert wichtige erste Hinweise darauf, dass Schülerpartizipation in der schulischen Gesundheitsförderung zur Wirksamkeit von Interventionen beitragen kann. Sie unterstreicht die potenzielle Bedeutung eines partizipativen Ansatzes in der schulischen Gesundheitsförderung und bietet Fachkräften eine erste Grundlage für ihre Arbeit.

Allerdings macht die Studie auch deutlich, dass die vorhandene Evidenz noch begrenzt und teilweise widersprüchlich ist. Die identifizierten Limitationen, wie die geringe Anzahl an Studien, deren Heterogenität und der Mangel an Langzeitdaten, mahnen zur Vorsicht bei der Interpretation und Verallgemeinerung der Ergebnisse. Es bleibt unklar, welche spezifischen Formen der Partizipation besonders wirksam sind und wie nachhaltig die beobachteten Effekte sind.

Ein wichtiger Aspekt, der in zukünftigen Studien berücksichtigt werden sollte, ist die Kosteneffizienz partizipativer Ansätze. Partizipative Methoden erfordern oft einen höheren Zeit- und Ressourcenaufwand als traditionelle Top-down-Interventionen. Angesichts der Tatsache, dass möglicherweise nicht alle Schüler gleichermaßen von diesen Ansätzen profitieren, stellt sich die Frage nach dem Kosten-Nutzen-Verhältnis. Es ist wichtig zu untersuchen, ob der zusätzliche Aufwand für partizipative Methoden durch bessere oder nachhaltigere Gesundheitsoutcomes gerechtfertigt wird. Dabei sollten auch indirekte Effekte, wie die Entwicklung von Handlungskompetenzen oder Verbesserungen des Schulklimas, in die Bewertung einbezogen werden.

Zudem sollte erforscht werden, wie partizipative Ansätze so gestaltet werden können, dass sie möglichst viele Schüler erreichen und einbeziehen. Dies könnte bedeuten, verschiedene Formen und Intensitäten der Partizipation anzubieten, um unterschiedlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten gerecht zu werden. Gleichzeitig sollte untersucht werden, ob und wie positive Effekte von direkt partizipierenden Schülern auf die breitere Schülerschaft übertragen werden können, um die Reichweite und Effizienz dieser Ansätze zu erhöhen.

Weitere Forschung ist dringend notwendig, um die optimalen Bedingungen für erfolgreiche Partizipation zu identifizieren, potenzielle negative Effekte zu minimieren und die langfristigen Auswirkungen zu untersuchen. Zukünftige Studien sollten methodisch rigoros gestaltet sein und verschiedene kulturelle und schulische Kontexte berücksichtigen.

Die Herausforderung für die Zukunft liegt darin, partizipative Ansätze evidenzbasiert und kosteneffizient so zu gestalten, dass sie nachhaltig zur Gesundheit und zum Wohlbefinden von möglichst vielen Schülern beitragen und gleichzeitig die Schulen als gesundheitsförderliche Settings stärken. Dabei sollten sowohl die Chancen als auch die möglichen Risiken und Grenzen der Schülerpartizipation berücksichtigt werden. Trotz der vielversprechenden Ansätze bleibt es wichtig, partizipative Methoden in der schulischen Gesundheitsförderung kritisch zu hinterfragen, kontinuierlich zu evaluieren und ihre Effizienz im Vergleich zu anderen Interventionsformen zu prüfen.

Literaturverzeichnis

Griebler, U., Rojatz, D., Simovska, V., & Forster, R. (2017). Effects of student participation in school health promotion: a systematic review. Health Promotion International, 32(2), 195-206. https://doi.org/10.1093/heapro/dat090

Hart, R. (2008). Stepping back from ‚the ladder‘: Reflections on a model of participatory work with children. In A. Reid, B. B. Jensen, J. Nikel, & V. Simovska (Eds.), Participation and Learning: Perspectives on Education and the Environment, Health and Sustainability (pp. 19-31). Springer. https://doi.org/10.1007/978-1-4020-6416-6_2

Jensen, B. B. (1997). A case of two paradigms within health education. Health Education Research, 12(4), 419-428. https://doi.org/10.1093/her/12.4.419

Potvin, L. (2007). Managing Uncertainty through Participation. In D. McQueen & I. Kickbusch (Eds.), Health and Modernity: The Role of Theory in Health Promotion (pp. 103-128). Springer. https://doi.org/10.1007/978-0-387-37759-9_7

Simovska, V. (2007). The changing meanings of participation in school-based health education and health promotion: the participants‘ voices. Health Education Research, 22(6), 864-878. https://doi.org/10.1093/her/cym023

Stewart-Brown, S. (2006). What is the evidence on school health promotion in improving health or preventing disease and, specifically, what is the effectiveness of the health promoting schools approach? WHO Regional Office for Europe (Health Evidence Network report), Copenhagen.

World Health Organization. (1986). Ottawa Charter for Health Promotion. WHO, Geneva.