Dieser Blogbeitrag basiert auf der Studie von Stevely et al. (2022) „Are changes in attitudes towards school associated with declining youth drinking? A multi-level analysis of 37 countries„, die im European Journal of Public Health erschienen ist.

Einleitung und Forschungskontext

In den letzten zwei Jahrzehnten wurde in den meisten Industrieländern ein substanzieller Rückgang des Alkoholkonsums unter Jugendlichen beobachtet. Die Health Behaviour in School-aged Children (HBSC) Studie dokumentiert beispielsweise einen Rückgang des Anteils der 15-Jährigen mit mindestens zweimaliger Rauscherfahrung von 36% (2001/02) auf 20% (2017/18) (Inchley et al., 2020, zitiert nach Stevely et al., 2022). Trotz intensiver Forschungsbemühungen sind die Ursachen für diesen Rückgang bisher nicht vollständig geklärt.

Forschungsansatz und zentrale Konstrukte

Die Studie untersucht einen möglichen Erklärungsansatz: den Zusammenhang zwischen schulischen Einstellungen und Alkoholkonsum. Dabei werden zwei schulbezogene Konstrukte betrachtet: Der schulische Druck („school pressure“), erfasst durch die subjektiv empfundene Belastung durch schulische Arbeit, sowie die Schulzufriedenheit („liking school“). Der Alkoholkonsum wird über zwei Indikatoren gemessen: wöchentlichen Konsum („weekly drinking“) und die Lebenszeitprävalenz von mindestens zweimaliger Trunkenheit („lifetime history of drunkenness“).

Methodischer Ansatz

Die Studie basiert auf Daten von 247.325 15-Jährigen aus 37 Ländern, erhoben in vier HBSC-Wellen zwischen 2001/02 und 2013/14. Ein besonderes methodisches Merkmal ist die Verwendung hierarchischer linearer Wahrscheinlichkeitsmodelle, die es ermöglichen, Veränderungen innerhalb von Ländern über die Zeit von stabilen Länderunterschieden zu trennen. Diese Analysestrategie, die sich auf Länder-Jahr-Mittelwerte („country-year means“) stützt, erlaubt robustere kausale Schlussfolgerungen als Studien, die sich auf einzelne Länder beschränken.

Zentrale Befunde

Die Ergebnisse zeigen einen deutlichen Rückgang des Alkoholkonsums über den Untersuchungszeitraum. Der durchschnittliche wöchentliche Konsum sank von 25,6% auf 12,2%, die Prävalenz von Rauscherfahrungen von 35,3% auf 22,4%. Die Analysen ergaben einen moderaten geschlechtsspezifischen Zusammenhang mit schulischem Druck: Bei Mädchen war ein Anstieg des schulischen Drucks um 10% mit einem Rückgang des wöchentlichen Alkoholkonsums um 2,1% verbunden. Bei Jungen fand sich dieser Zusammenhang nicht. Die allgemeine Schulzufriedenheit zeigte keine konsistenten Zusammenhänge mit dem Alkoholkonsum.

Mechanismen des Zusammenhangs zwischen schulischem Druck und Alkoholkonsum

Die Autoren diskutieren zwei konkurrierende theoretische Modelle zur Erklärung des Zusammenhangs zwischen schulischem Druck und Alkoholkonsum. Die erste Hypothese geht davon aus, dass erhöhter schulischer Druck zu verstärktem Alkoholkonsum als Bewältigungsstrategie führen könnte. Diese Annahme stützt sich auf frühere Forschung von Liu et al. (2014) und Russell et al. (2017, beide zitiert nach Stevely et al., 2022), die Zusammenhänge zwischen Stressoren und „schwererem“ Alkoholkonsum als Form der Stressbekämpfung fanden.

Die zweite, von den Studienergebnissen eher gestützte Hypothese vermutet einen gegenläufigen Effekt: Gestiegener schulischer Druck könnte zu reduziertem Alkoholkonsum führen, da Jugendliche ihre akademischen Ziele nicht gefährden wollen. Diese Interpretation wird durch qualitative Forschung von Caluzzi et al. (2021) gestützt, die zeigt, dass Jugendliche Alkohol bewusst meiden, um ihre Zukunftschancen nicht zu beeinträchtigen. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Ergebnissen könnten darauf hinweisen, dass Mädchen eher diese zweite Strategie wählen, möglicherweise vor dem Hintergrund einer generell stärkeren Leistungsorientierung und höherer wahrgenommener akademischer Verantwortung.

Die Autoren betonen jedoch, dass der gefundene moderate Zusammenhang bei Mädchen weiterer Erklärung bedarf. Sie vermuten, dass veränderte schulische Einstellungen Teil eines breiteren kulturellen Wandels sein könnten, der auch andere gesundheitsbezogene Verhaltensweisen und Einstellungen umfasst. Diese Interpretation wird durch parallel beobachtete Rückgänge bei anderen Risikoverhaltensweisen wie Drogenkonsum und Rauchen gestützt.

Theoretische Einordnung

Die Autoren ordnen ihre Befunde vorsichtig in den bisherigen Forschungsstand ein. Sie verweisen auf eine systematische Übersichtsarbeit von Vashishtha et al. (2020), die nur moderate Evidenz für verschiedene Erklärungsansätze des Konsumrückgangs findet. Der beobachtete geschlechtsspezifische Zusammenhang mit schulischem Druck wird vor dem Hintergrund veränderter akademischer Anforderungen und wirtschaftlicher Unsicherheit seit der Finanzkrise 2008 diskutiert, wobei die Autoren betonen, dass die zugrundeliegenden Mechanismen weiterer Klärung bedürfen.

Methodische Stärken und Limitationen

Die ländervergleichende Perspektive der Studie ermöglicht es, länderspezifische Erklärungen (wie Veränderungen in der Alkoholpolitik oder schulbasierte Präventionsprogramme) als alleinige Ursachen auszuschließen. Die Autoren weisen jedoch auf wichtige Einschränkungen hin: Die verwendeten Maße für schulische Einstellungen sind relativ einfach und können die komplexe schulische Erfahrungswelt nur begrenzt abbilden. Zudem können Selbstberichtsdaten zu Alkoholkonsum durch soziale Erwünschtheit verzerrt sein.

Implikationen für Forschung und Praxis

Die Studie legt nahe, dass schulische Faktoren nur eine untergeordnete Rolle beim Rückgang des jugendlichen Alkoholkonsums spielen. Die Autoren betonen, dass wahrscheinlich komplexere Prozesse und multiple sich überlagernde Trends den Konsumrückgang erklären. Für die weitere Forschung empfehlen sie die Untersuchung des Zusammenspiels verschiedener Einflussfaktoren sowie der sich wandelnden Position des Alkoholkonsums in der Jugendkultur.

Für die Präventionspraxis deuten die Ergebnisse darauf hin, dass geschlechtsspezifische Unterschiede im Umgang mit schulischem Druck berücksichtigt werden sollten. Allerdings warnen die Autoren vor zu weitreichenden Schlussfolgerungen und empfehlen, schulbezogene Faktoren als einen von vielen relevanten Aspekten in der Präventionsarbeit zu betrachten.

Literaturverzeichnis

Caluzzi, G., MacLean, S., Livingston, M., & Pennay, A. (2021). ‚No one associates alcohol with being in good health‘: Health and wellbeing as imperatives to manage alcohol use for young people. Sociology of Health & Illness, 43(2), 493-509. https://doi.org/10.1111/1467-9566.13237

Inchley, J., Currie, D., Budisavljevic, S., et al. (2020). Spotlight on adolescent health and well-being. Findings from the 2017/2018 Health Behaviour in School-aged Children (HBSC) survey in Europe and Canada. Copenhagen: WHO Regional Office for Europe. [zitiert nach Stevely et al., 2022]

Liu, X. C., Keyes, K. M., & Li, G. (2014). Work stress and alcohol consumption among adolescents: Moderation by family and peer influences. BMC Public Health, 14, 1303. https://doi.org/10.1186/1471-2458-14-1303 [zitiert nach Stevely et al., 2022]

Russell, M. A., Almeida, D. M., & Maggs, J. L. (2017). Stressor-related drinking and future alcohol problems among university students. Psychology of Addictive Behaviors, 31(6), 676-687. https://doi.org/10.1037/adb0000303 [zitiert nach Stevely et al., 2022]

Stevely, A. K., Vashishtha, R., Fairbrother, H., Fenton, L., Henney, M., Livingston, M., & Holmes, J. (2022). Are changes in attitudes towards school associated with declining youth drinking? A multi-level analysis of 37 countries. European Journal of Public Health, 32(3), 354-359. https://doi.org/10.1093/eurpub/ckac029

Vashishtha, R., Livingston, M., Pennay, A., Dietze, P., MacLean, S., Holmes, J., … & Lubman, D. I. (2020). Why is adolescent drinking declining? A systematic review and narrative synthesis. Addiction Research & Theory, 28(4), 275-288. https://doi.org/10.1080/16066359.2019.1663831