Dieser Blogbeitrag basiert auf einer aktuellen Studie von Barrett et al. (2023), die in der Zeitschrift Prevention Science veröffentlicht wurde. Die Forschung untersucht ein kritisches, aber oft übersehenes Problem in der schulischen Prävention: Warum halten Schulen an Programmen fest, die sich als ineffektiv erwiesen haben? Diese Frage ist für Fachkräfte in der Prävention und Gesundheitsförderung von großer Bedeutung, da sie direkte Auswirkungen auf die Wirksamkeit unserer Bemühungen zur Verbesserung der Gesundheit und des Wohlbefindens von Kindern und Jugendlichen hat.

Haupterkenntnisse

1. Das Phänomen der „Eskalation der Verpflichtung“

Die Studie führt das Konzept der „Eskalation der Verpflichtung“ in den Kontext der schulischen Prävention ein. Dieses psychologische Phänomen beschreibt die Tendenz, an einem Handlungsverlauf festzuhalten, selbst wenn Leistungsindikatoren darauf hindeuten, dass er nicht erfolgreich ist. In Schulen kann dies dazu führen, dass ineffektive Präventionsprogramme fortgeführt werden, anstatt sie durch evidenzbasierte Alternativen zu ersetzen.

2. Attributionen für schlechte Programmergebnisse

Die Forscher fanden heraus, dass Schuladministratoren dazu neigen, schlechte Programmergebnisse nicht dem Programm selbst zuzuschreiben, sondern anderen Faktoren wie:

  • Implementierungsproblemen (z.B. mangelnde Schulung oder Zeit)
  • Führungsschwächen
  • Begrenzungen der Leistungsindikatoren selbst

Diese Attributionen können dazu führen, dass ineffektive Programme fortgeführt werden, anstatt sie zu beenden.

3. Determinanten der Eskalation der Verpflichtung

Die Studie identifizierte drei Hauptkategorien von Faktoren, die die Entscheidung zur Fortsetzung ineffektiver Programme beeinflussen:

  1. Psychologische Faktoren: z.B. Angst vor Veränderung, persönliche Verbundenheit mit dem Programm
  2. Organisatorische Faktoren: z.B. Unterstützung durch interne Stakeholder, Programmtradition
  3. Externe Faktoren: z.B. Druck aus der Gemeinschaft, vertragliche Verpflichtungen

4. Variationen in den Reaktionen und Determinanten

Die Forscher stellten fest, dass die Reaktionen auf schlechte Leistungsindikatoren und die Wirkung der verschiedenen Determinanten durch Faktoren wie die Erfahrung des Administrators, die Schuldemografie und unerwartete Ereignisse (z.B. die COVID-19-Pandemie) beeinflusst werden können.

graph TD A[Programmannahme] --> B{Formelle/Informelle Überprüfung} B --> C{Leistungsindikatoren positiv?} C -->|Ja| D[Programm fortsetzen] C -->|Nein| E{Attributionen für schlechte Ergebnisse} E -->|Implementierungsprobleme| F[Ressourcen erhöhen] E -->|Führungsschwächen| G[Führung unterstützen/ändern] E -->|Begrenzte Indikatoren| H[Indikatoren neu bewerten] F --> I{Entscheidung zur Fortsetzung} G --> I H --> I I -->|Ja| J[Programm anpassen/fortsetzen] I -->|Nein| K[Programm beenden] J --> B K --> L[Neues Programm auswählen] L --> A

Flussdiagramm: Eskalation der Verpflichtung in Schulen. Eigene Darstellung basierend auf Barrett et al. (2023), "Sticking with Programs That Do Not Work: The Role of Escalation of Commitment in Schools", Prevention Science.

Praktische Implikationen für Präventionsfachkräfte

  1. Bewusstsein schaffen: Es ist wichtig, Schuladministratoren für das Phänomen der Eskalation der Verpflichtung zu sensibilisieren. Das Verständnis dieses psychologischen Prozesses kann helfen, objektivere Entscheidungen über die Fortsetzung oder Beendigung von Programmen zu treffen.
  2. Klare Benchmarks setzen: Die Studie unterstreicht die Bedeutung klar definierter Leistungsindikatoren und Benchmarks, die vor der Implementierung eines Programms festgelegt werden. Dies kann Administratoren dabei helfen, fundiertere Entscheidungen über die Fortsetzung oder Beendigung von Programmen zu treffen.
  3. Teambasierte Entscheidungsfindung fördern: Obwohl die Studie zeigt, dass die Entscheidung zur Programmfortsetzung oft von einzelnen Administratoren getroffen wird, kann ein teambasierter Ansatz helfen, verschiedene Perspektiven einzubeziehen und die Objektivität zu erhöhen.
  4. Fokus auf evidenzbasierte Praktiken: Die Studie betont die Notwendigkeit, bei der Programmentscheidung und -bewertung stärker auf die Evidenzbasis zu achten. Präventionsfachkräfte sollten Schulen dabei unterstützen, evidenzbasierte Programme auszuwählen und zu implementieren.
  5. De-Implementierung als wichtigen Schritt anerkennen: Die Beendigung ineffektiver Programme sollte als notwendiger und positiver Schritt zur Verbesserung der schulischen Prävention gesehen werden. Präventionsfachkräfte können Schulen dabei unterstützen, Strategien für eine effektive De-Implementierung zu entwickeln.

Vertiefte praktische Strategien für Präventionsfachkräfte

Schulung zur Entscheidungsfindung anbieten:

Präventionsfachkräfte können Workshops oder Schulungen für Schuladministratoren anbieten, die sich speziell mit dem Thema Entscheidungsfindung und Programmbewertung befassen. Diese Schulungen sollten folgende Aspekte beinhalten:

    • Erkennen und Vermeiden von kognitiven Verzerrungen wie der Eskalation der Verpflichtung
    • Techniken zur objektiven Bewertung von Programmen
    • Methoden zur Unterscheidung zwischen Implementierungsproblemen und ineffektiven Programmen
    • Strategien zur effektiven Kommunikation von Programmentscheidungen an Stakeholder

Unterstützung bei der Entwicklung von Evaluationsrahmen:

Präventionsfachkräfte können Schulen bei der Entwicklung robuster Evaluationsrahmen unterstützen. Dies beinhaltet:

    • Festlegung klarer, messbarer Ziele für jedes Programm
    • Auswahl geeigneter Indikatoren zur Messung des Programmerfolgs
    • Etablierung regelmäßiger Überprüfungszeitpunkte
    • Integration sowohl qualitativer als auch quantitativer Daten in die Bewertung

Förderung einer Kultur des kontinuierlichen Lernens:

Präventionsfachkräfte können Schulen dabei helfen, eine Kultur zu entwickeln, in der das Beenden ineffektiver Programme als Lernchance und nicht als Scheitern gesehen wird. Dazu gehören:

    • Ermutigung zur offenen Diskussion über Programmerfolge und -misserfolge
    • Förderung einer „Fail-Forward“-Mentalität, bei der aus Misserfolgen gelernt wird
    • Anerkennung und Belohnung von Bemühungen zur ehrlichen Programmbewertung und -verbesserung

Unterstützung bei der Entwicklung von Ausstiegsstrategien:

Präventionsfachkräfte können Schulen dabei helfen, proaktiv Ausstiegsstrategien für Programme zu entwickeln. Dies beinhaltet:

    • Festlegung klarer Kriterien, wann ein Programm beendet werden sollte
    • Planung der schrittweisen Reduzierung von Ressourcen für ineffektive Programme
    • Entwicklung von Kommunikationsstrategien, um den Ausstieg aus einem Programm gegenüber Stakeholdern zu erklären

Förderung von Netzwerken zum Erfahrungsaustausch:

Präventionsfachkräfte können Netzwerke zwischen Schulen oder Schulbezirken initiieren, in denen Erfahrungen mit der Implementierung und De-Implementierung von Programmen ausgetauscht werden können. Dies kann beinhalten:

    • Organisation regelmäßiger Treffen oder Konferenzen zum Thema Programmbewertung und -entscheidung
    • Einrichtung von Online-Plattformen zum Austausch von Best Practices und Lessons Learned
    • Förderung von Mentoring-Beziehungen zwischen erfahrenen und weniger erfahrenen Administratoren

Unterstützung bei der Ressourcenallokation:

Präventionsfachkräfte können Schulen dabei beraten, wie sie ihre Ressourcen effektiv zwischen bestehenden und neuen Programmen aufteilen können. Dies beinhaltet:

    • Entwicklung von Modellen zur Kosten-Nutzen-Analyse von Programmen
    • Unterstützung bei der Identifizierung von Synergien zwischen verschiedenen Programmen
    • Beratung zur effizienten Nutzung von personellen und finanziellen Ressourcen bei der Programmimplementierung und -beendigung

Förderung evidenzbasierter Entscheidungsfindung:

Präventionsfachkräfte können Schulen dabei unterstützen, evidenzbasierte Entscheidungsprozesse zu implementieren. Dies kann beinhalten:

    • Schulung in der Interpretation und Anwendung von Forschungsergebnissen
    • Unterstützung bei der Durchführung von Literaturrecherchen zu bestehenden und potenziellen Programmen
    • Hilfe bei der Integration von lokalem Kontext und Forschungsevidenz in Entscheidungsprozesse

Entwicklung von Frühwarnsystemen:

Präventionsfachkräfte können Schulen bei der Entwicklung von Frühwarnsystemen unterstützen, die potenzielle Probleme mit Programmen frühzeitig identifizieren. Dies könnte beinhalten:

    • Implementierung regelmäßiger „Gesundheitschecks“ für Programme
    • Entwicklung von Dashboards zur kontinuierlichen Überwachung von Programmleistungsindikatoren
    • Etablierung von Feedback-Mechanismen für Programmteilnehmer und Implementierer

Fazit

Die Studie von Barrett et al. (2023) liefert wichtige Erkenntnisse darüber, warum Schulen möglicherweise an ineffektiven Präventionsprogrammen festhalten. Für Fachkräfte in der Prävention und Gesundheitsförderung bietet dieses Wissen die Möglichkeit, Schulen besser bei der Implementierung, Evaluation und gegebenenfalls De-Implementierung von Programmen zu unterstützen.

Indem wir das Phänomen der Eskalation der Verpflichtung verstehen und aktiv dagegen vorgehen, können wir dazu beitragen, dass Schulen evidenzbasierte Praktiken effektiver umsetzen und letztendlich bessere Ergebnisse für Schülerinnen und Schüler erzielen. Die vorgestellten praktischen Strategien bieten Präventionsfachkräften konkrete Ansatzpunkte, um Schulen in diesem Prozess zu unterstützen und eine Kultur der kontinuierlichen Verbesserung und des evidenzbasierten Handelns zu fördern.

Abschließend lässt sich sagen, dass das Verständnis und die aktive Bekämpfung der Eskalation der Verpflichtung in Schulen ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der Effektivität von Präventionsprogrammen ist. Durch die Anwendung der hier vorgestellten Strategien können Präventionsfachkräfte Schulen dabei unterstützen, ihre Ressourcen optimal einzusetzen und evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen. Dies führt letztendlich zu einer verbesserten Lernumgebung und besseren Ergebnissen für Schülerinnen und Schüler.

Indem wir uns bewusst mit dem Phänomen der Eskalation der Verpflichtung auseinandersetzen und proaktiv dagegen vorgehen, können wir einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung und Verbesserung der schulischen Prävention leisten. Es liegt an uns als Fachkräfte, dieses Wissen in die Praxis umzusetzen und Schulen auf ihrem Weg zu einer evidenzbasierten und wirkungsvollen Präventionsarbeit zu begleiten.