Die sozialen Determinanten von Gesundheit
Ethische Implikationen für Prävention und Gesundheitsförderung
inEthik, Gesundheit, Prävention21. März 2018
Als Fachkräfte in Prävention und Gesundheitsförderung sind wir täglich damit beschäftigt, die Gesundheit von Individuen und Bevölkerungsgruppen zu verbessern. Doch wie sehr beeinflussen die sozialen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen unserer Zielgruppen den Erfolg diese Interventionen? Und welche ethischen Fragen ergeben sich daraus für die Arbeit?
Das Buch „Public Health Ethics and the Social Determinants of Health“ von Daniel S. Goldberg bietet wichtige Denkanstöße zu diesen Fragen. Es beleuchtet die komplexen Zusammenhänge zwischen sozialen Determinanten, Gesundheitsverhalten und Gesundheitszustand und diskutiert die daraus resultierenden ethischen Implikationen für Public Health. Im Folgenden fasse ich die Haupterkenntnisse zusammen und diskutiere ihre Relevanz für unsere praktische Arbeit in Prävention und Gesundheitsförderung.
Eine der zentralen Thesen des Buches lautet: Die sozialen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen sind die Hauptdeterminanten für Gesundheit und ihre Verteilung in der Bevölkerung. Goldberg (2017) stützt sich dabei auf umfangreiche epidemiologische Evidenz, insbesondere die Whitehall-Studien von Michael Marmot. Diese zeigen einen deutlichen sozialen GradientenStufenweise Verbesserung der Gesundheit mit steigendem sozioökonomischen Status in der Gesundheit – je höher der sozioökonomische Status, desto besser der Gesundheitszustand. Dabei geht es nicht nur um extreme Armut. Der Gradient zieht sich durch alle sozialen Schichten. Selbst zwischen mittleren und höheren Angestellten finden sich noch Unterschiede in Mortalität und Morbidität. Goldberg betont: Soziale Benachteiligung häuft sich oft in bestimmten Gruppen. Wer in einer Dimension benachteiligt ist, hat ein höheres Risiko, auch in anderen Bereichen schlechter gestellt zu sein. Dies führt zu kumulativen Effekten auf die Gesundheit, was als Compound DisadvantageKumulation von Benachteiligungen in bestimmten Gruppen bezeichnet wird. Die Erkenntnis, dass soziale Faktoren die Hauptdeterminanten von Gesundheit sind, hat weitreichende Konsequenzen. Sie stellt den Fokus auf individuelle Gesundheitsversorgung und Lebensstilinterventionen in Frage. Goldberg (2017) argumentiert, dass Verbesserungen im Gesundheitssystem nur begrenzte Auswirkungen haben, solange die grundlegenden sozialen Determinanten nicht adressiert werden.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die soziale Prägung von Gesundheitsverhalten. Riskante Verhaltensweisen wie Rauchen, Bewegungsmangel oder ungesunde Ernährung folgen oft dem gleichen sozialen Gradienten wie der Gesundheitszustand selbst. Menschen aus benachteiligten Gruppen zeigen häufiger gesundheitsschädliches Verhalten. Goldberg (2017) warnt jedoch davor, dies vereinfacht als individuelle Entscheidungen zu interpretieren. Er diskutiert ausführlich die Frage der individuellen Verantwortung für Gesundheit. Er argumentiert, dass die starke soziale Prägung von Gesundheitsverhalten die Grenzen individueller Verantwortung aufzeigt. Während Individuen durchaus Entscheidungen über ihr Gesundheitsverhalten treffen, sind diese Entscheidungen stark von sozialen und ökonomischen Bedingungen beeinflusst. Dies hat wichtige Implikationen für die Gestaltung von Gesundheitspolitik und -interventionen. Statt Menschen für ‚ungesundes‘ Verhalten zu stigmatisieren, sollten wir uns darauf konzentrieren, Bedingungen zu schaffen, die gesunde Entscheidungen erleichtern und ermöglichen.
Die sozialen Muster deuten darauf hin, dass strukturelle Faktoren eine wichtige Rolle spielen. Schwierige Lebensbedingungen, Stress und fehlende Ressourcen können gesundheitsförderliches Verhalten erschweren. Gleichzeitig können riskante Verhaltensweisen Bewältigungsstrategien für belastende Lebensumstände sein. Diese Erkenntnis stellt simplifizierende Ansätze der Gesundheitsförderung in Frage, die allein auf Wissensvermittlung und Appelle an individuelles Verhalten setzen. Sie unterstreicht die Notwendigkeit, die Lebensbedingungen und sozialen Kontexte in den Blick zu nehmen.
Aus diesen empirischen Erkenntnissen leitet Goldberg (2017) wichtige ethische Fragen ab:
Goldberg (2017) diskutiert in seinem Werk verschiedene Gerechtigkeitstheorien und ihre Anwendung auf Public Health. Drei zentrale Ansätze stechen dabei hervor:
Goldberg nutzt diese Theorien, um zu argumentieren, dass Gerechtigkeit ein zentrales Prinzip für Public Health sein sollte. Dabei geht es nicht nur um die faire Verteilung von Gesundheitsleistungen, sondern um die Schaffung fairer sozialer Bedingungen für Gesundheit. Diese Perspektive erweitert den Fokus von Public Health von individuellen Interventionen hin zu breiteren sozialen und politischen Maßnahmen. Er plädiert für einen Health Sufficiency-AnsatzModell von Powers und Faden, das ein ausreichendes Maß an Gesundheit für alle als Gerechtigkeitsziel definiert: Eine gerechte Gesellschaft muss allen Mitgliedern ein ausreichendes Maß an Gesundheit und Wohlbefinden ermöglichen. Dafür müssen grundlegende soziale Benachteiligungen adressiert werden. Gleichzeitig diskutiert Goldberg (2017) die Grenzen und Risiken eines zu weit gefassten Public Health-Mandats. Wenn alles Soziale gesundheitsrelevant ist, besteht die Gefahr einer grenzenlosen Ausweitung staatlichen Handelns unter dem Banner der Gesundheit. Er plädiert für eine sorgfältige Abwägung zwischen Public Health-Zielen und anderen gesellschaftlichen Werten.
Was bedeuten diese Erkenntnisse nun für unsere praktische Arbeit in Prävention und Gesundheitsförderung? Hier einige zentrale Punkte:
Die starke Evidenz für die Bedeutung sozialer Determinanten sollte sich in unseren Interventionen widerspiegeln. Statt uns ausschließlich auf individuelles Verhalten zu konzentrieren, müssen wir verstärkt die Lebensbedingungen in den Blick nehmen. Das kann bedeuten:
Ein Beispiel für einen solchen Ansatz ist die Health in All Policies-StrategieStrategie zur Integration von Gesundheitsaspekten in alle Politikbereiche. Sie zielt darauf ab, Gesundheitsaspekte in allen Politikbereichen zu berücksichtigen. Abbildung 2: Soziale Determinanten von Gesundheit (basierend auf Goldberg, 2017)
Auch wenn wir weiterhin auf Verhaltensänderungen abzielen, müssen wir die sozialen Kontexte stärker berücksichtigen. Das bedeutet:
Statt generische Ratschläge zu geben, sollten wir Menschen dabei unterstützen, in ihrem spezifischen Kontext gesündere Entscheidungen zu treffen.
Wenn wir Health EquityGerechtigkeit im Gesundheitsbereich, Ziel der Verringerung vermeidbarer Gesundheitsunterschiede als Ziel ernst nehmen, müssen wir uns verstärkt auf benachteiligte Gruppen konzentrieren. Das kann bedeuten:
Dabei ist es wichtig, Stigmatisierung zu vermeiden und die Stärken und Ressourcen der Bevölkerungsgruppen zu nutzen.
Goldbergs (2017) Analyse mahnt uns, die ethischen Implikationen unserer Arbeit stärker zu reflektieren. Einige Fragen, die wir uns stellen sollten:
Eine kontinuierliche ethische Reflexion sollte integraler Bestandteil unserer professionellen Praxis sein.
Die Erkenntnisse zu den sozialen Determinanten von Gesundheit stellen uns als Fachkräfte in Prävention und Gesundheitsförderung vor große Herausforderungen. Sie erfordern ein Umdenken in Bezug auf die Ursachen von Gesundheit und Krankheit und die Ansatzpunkte für Interventionen. Gleichzeitig eröffnen sie neue Möglichkeiten, wirkungsvoller zur Verbesserung der Bevölkerungsgesundheit beizutragen. Indem wir soziale Determinanten in den Mittelpunkt stellen, können wir die Wurzeln gesundheitlicher Ungleichheiten adressieren. Dies erfordert eine Erweiterung unseres Blickfeldes und neue Formen der Zusammenarbeit über Sektorgrenzen hinweg. Es bedeutet auch, uns stärker in gesellschaftliche und politische Debatten einzubringen. Nicht zuletzt mahnt uns Goldbergs (2017) Analyse, die ethischen Dimensionen unserer Arbeit stets mitzudenken. Nur so können wir unserem Auftrag gerecht werden, die Gesundheit aller Menschen zu fördern und dabei Prinzipien der Gerechtigkeit und des Respekts vor der menschlichen Würde zu wahren.
Goldberg, D. S. (2017). Public health ethics and the social determinants of health. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-319-51347-8
Marmot, M., & Wilkinson, R. G. (Eds.). (2006). Social determinants of health (2nd ed.). Oxford University Press. https://doi.org/10.1093/acprof:oso/9780198565895.001.0001
Powers, M., & Faden, R. (2006). Social justice: The moral foundations of public health and health policy. Oxford University Press.
Sen, A. (2009). The idea of justice. Harvard University Press.
Nussbaum, M. C. (2011). Creating capabilities: The human development approach. Harvard University Press. https://doi.org/10.4159/harvard.9780674061200