Evidenzbasiertes prosoziales Handeln
Ein Konzept von John W. Toumbourou
inEthik, Gesundheit, Prävention, Soziale Arbeit11. September 2024
In seinem wegweisenden Artikel „Beneficial Action Within Altruistic and Prosocial Behavior“ präsentiert John W. Toumbourou von der Deakin University ein Konzept, das er als „Beneficial Action“ bezeichnet. Im Folgenden werden wir diesen Begriff als „evidenzbasiertes prosoziales Handeln“ übersetzen. Dieses Konzept zielt darauf ab, durch wissenschaftlich fundierte Maßnahmen das Wohlergehen der globalen Bevölkerung zu fördern. Toumbourou integriert Erkenntnisse aus der Gesundheitspsychologie, der Lebenslaufforschung und der Sozialpsychologie zu einem theoretischen Rahmenwerk, das unser Verständnis von prosozialem (auf das Wohl anderer ausgerichtetem) und altruistischem (selbstlosem) Verhalten erweitert und vertieft.
Toumbourou definiert evidenzbasiertes prosoziales Handeln als eine spezifische Unterkategorie von prosozialem und altruistischem Verhalten. Er formuliert dies als zweites Prinzip seiner Theorie:
„Evidenzbasiertes prosoziales Handeln ist prosozial und altruistisch motiviertes Verhalten, das Wirkungswissen nutzt, um die Freiheit innerhalb der globalen Bevölkerung zu erhöhen.“ (Toumbourou, 2016, S. 248)
Mit „globaler Bevölkerung“ ist hier die Gesamtheit aller Menschen weltweit gemeint.
Diese Definition baut auf bestehenden Konzepten auf, geht aber in entscheidenden Punkten darüber hinaus:
Toumbourou argumentiert, dass diese Erweiterung notwendig ist, da prosoziales und altruistisches Verhalten nicht automatisch zu positiven Ergebnissen führt. Er zitiert Beispiele aus dem Bereich der öffentlichen Gesundheit, wo gut gemeinte Interventionen teilweise negative oder neutrale Effekte hatten (z.B. Hawthorne, 1996; Ringwalt, Ennett, & Holt, 1991).
Ein Kernaspekt von Toumbourous Theorie ist seine Definition von Freiheit, die er als erstes Prinzip formuliert:
„Freiheit ist der Bereich an Verhalten, den ein Organismus wählen und ausführen kann, nachdem genetische und umweltbedingte Determinanten berücksichtigt wurden.“ (Toumbourou, 2016, S. 248)
Diese Definition erweitert bestehende Konzepte von Freiheit, wie sie etwa in der Ökonomie (Friedman & Friedman, 1990) oder der internationalen Entwicklung (Sachs, 2005) verwendet werden. Sie umfasst physische, psychische und soziale Aspekte und ist damit besonders relevant für die Gesundheitsförderung.
Toumbourou schlägt vor, einen Index menschlicher Freiheit zu entwickeln, der folgende Indikatoren umfasst:
Toumbourou betont die zentrale Bedeutung von „Wirkungswissen“ für evidenzbasiertes prosoziales Handeln. Er formuliert dies als drittes Prinzip:
„Das Erfahren (direkt oder indirekt) der Konsequenzen von Handlungen ist ein primäres Mittel, durch das alle lebenden Organismen lernen, ihre individuelle Freiheit einzuschränken, um die Freiheit auf Populationsebene zu erhöhen. Die Systematisierung von Wirkungswissen fördert die Freiheit in menschlichen Populationen.“ (Toumbourou, 2016, S. 249)
Er argumentiert, dass die zunehmende Komplexität menschlicher Gesellschaften es schwieriger macht, die Konsequenzen von Handlungen vorherzusagen. Daher sind Institutionen, die wissenschaftliche Erkenntnisse zusammenfassen und verbreiten, von entscheidender Bedeutung. Als Beispiele nennt er die Cochrane Collaboration und das Washington State Institute for Public Policy (Aos et al., 2011).
Als viertes Prinzip formuliert Toumbourou:
„Wettbewerb, Konflikt und Gewalt begrenzen die Freiheit aller Lebewesen. Die Freiheit innerhalb der globalen Bevölkerung wird erhöht, wenn menschliche Populationen fürsorgliche Handlungen adoptieren, die erfolgreich soziale Bindungen zu Fremdgruppen entwickeln.“ (Toumbourou, 2016, S. 251)
Unter „Fremdgruppen“ versteht man in der Sozialpsychologie Gruppen, mit denen sich ein Individuum nicht identifiziert oder denen es sich nicht zugehörig fühlt.
Dieses Prinzip basiert auf Erkenntnissen der Sozialpsychologie, insbesondere der Theorie der sozialen Identität (Tajfel & Turner, 1986). Toumbourou argumentiert, dass die Erweiterung der Grenzen der „Eigengruppe“ (Gruppe, mit der sich ein Individuum identifiziert) ein entscheidender Faktor für die Entwicklung von evidenzbasiertem prosozialem Handeln ist.
Er verweist auf das Soziale Entwicklungsmodell (Social Development Model, SDM; Catalano & Hawkins, 1996) als theoretische Grundlage für die Entwicklung sozialer Bindungen und Identifikation. Dieses Modell wurde erfolgreich eingesetzt, um Interventionen zu entwickeln, die die soziale Mobilität (Möglichkeit des sozialen Aufstiegs) benachteiligter Minderheiten verbesserten und antisoziales (gesellschaftsschädigendes) und gewalttätiges Verhalten reduzierten (Hawkins et al., 1999, 2005).
Toumbourou leitet aus seiner Theorie zwei zentrale testbare Vorhersagen ab:
Diese Vorhersagen bieten konkrete Ansatzpunkte für zukünftige Forschung und die Entwicklung von Interventionen.
Toumbourous Konzept des evidenzbasierten prosozialen Handelns bietet einen innovativen theoretischen Rahmen, der altruistisches und prosoziales Verhalten mit wissenschaftlichem Wirkungswissen und globaler Perspektive verbindet. Es stellt eine Herausforderung für bestehende Ansätze dar und könnte weitreichende Implikationen für die Forschung und Praxis in Bereichen wie Prävention, Gesundheitsförderung und internationale Entwicklung haben.
Die Integration von Erkenntnissen aus verschiedenen Disziplinen und die explizite Berücksichtigung globaler Konsequenzen machen evidenzbasiertes prosoziales Handeln zu einem vielversprechenden Ansatz für die Bewältigung komplexer gesellschaftlicher Herausforderungen. Zukünftige Forschung wird zeigen müssen, inwieweit sich die von Toumbourou formulierten Prinzipien und Vorhersagen empirisch bestätigen lassen und wie sie in konkrete Interventionen und Politikmaßnahmen umgesetzt werden können.
Toumbourou, J. W. (2016). Beneficial Action Within Altruistic and Prosocial Behavior. Review of General Psychology, 20(3), 245-258. https://doi.org/10.1037/gpr0000081
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