In der Suchtprävention und Gesundheitsförderung stehen Fachkräfte vor der Herausforderung, Programme und Interventionen für heterogene Zielgruppen zu entwickeln und umzusetzen. Eine Publikation von Kröninger-Jungaberle und Schuldt (2014) beleuchtet die Vielfalt der Interaktionsmuster von Jugendlichen in präventiven Schulprogrammen und liefert  Erkenntnisse für eine differenzierte Herangehensweise. Dieser Blogbeitrag fasst die Hauptergebnisse der Studie zusammen und diskutiert deren Relevanz für die Praxis der Suchtprävention.

Hintergrund und Methodik

Die Autoren kritisieren die vorherrschende „Illusion der Zielgruppen-Homogenität“ in der Präventionsforschung und -praxis. Um ein differenzierteres Bild zu gewinnen, entwickelten sie eine empirisch begründete Typologie von Schüler-Interaktionsmustern. Die Studie basiert auf:

  • Workshops mit 38 Präventionsexperten
  • 141 Feedback-Berichten von Schülern
  • 81 Berichten von Peer-Mentoren
  • 19 Berichten von Präventions-Pädagogen
  • Notizen aus Weiterbildungen und Supervisionen

Methodisch folgt die Studie dem Ansatz der „constructed types“ nach McKinney (1970). Dabei werden empirische Daten mit konzeptionellen Überlegungen kombiniert, um realitätsnahe, aber theoretisch fundierte Typen zu entwickeln. Die Autoren nutzten zunächst die von Praktikern identifizierten „existential types“ als Ausgangspunkt. In einem mehrstufigen Prozess wurden diese dann systematisiert, reduziert und anhand des qualitativen Datenmaterials empirisch verankert. Die resultierenden Typen wurden schließlich anhand von vier Hauptmerkmalen auf einer Ordinalskala eingeordnet:

  1. Motivation/Interesse am Kursthema, Kursleitern und Mentoren
  2. Art der Kommunikation (konstruktiv vs. destruktiv)
  3. Grad der aktiven Beteiligung
  4. Grad der Autonomie gegenüber Peers

Dieser methodische Ansatz ermöglicht es, die Komplexität und Dynamik von Interaktionsmustern zu erfassen, ohne in starre Kategorisierungen zu verfallen.

Hauptergebnisse

Acht Interaktionstypen

Die Studie identifiziert acht distinkte Interaktionstypen von Jugendlichen in Präventionsprogrammen. Im Folgenden werden diese Typen detaillierter erläutert:

  1. Die Meinungsführer: Diese Jugendlichen dominieren oft die Klasseninteraktion durch ihre starke Persönlichkeit und ihren Einfluss auf Peers. Sie zeichnen sich durch hohe Autonomie aus und können sowohl positiv als auch negativ auf den Kursverlauf einwirken. Ihre Beteiligung kann zwischen aktiv und passiv schwanken, abhängig von ihrem Interesse am Thema.
  2. Die Mitläufer: Komplementär zu den Meinungsführern orientieren sich diese Schüler stark an den vorherrschenden Gruppenmeinungen. Sie zeigen eine geringere Autonomie gegenüber Peers und passen ihr Verhalten oft an das der dominanten Schüler an. Ihre Kommunikation ist meist unauffällig und kann je nach Gruppendynamik konstruktiv oder destruktiv sein.
  3. Die Authentischen: Diese Gruppe zeichnet sich durch eine hohe Bereitschaft zur Selbstoffenbarung und affektnahen Kommunikation aus. Sie zeigen oft großes Interesse am Kursthema und bauen leicht positive Beziehungen zu Kursleitern und Mentoren auf. Ihre Authentizität kann positive Effekte auf die gesamte Gruppeninteraktion haben, führt aber manchmal auch zu Konflikten mit weniger offenen Peers.
  4. Die Pseudo-Reflektierten: Diese Jugendlichen scheinen oberflächlich betrachtet sehr interessiert und reflektiert, neigen aber dazu, echten Selbstbezug zu vermeiden. Sie benutzen schnell die Begriffe des Programms, haben aber oft Schwierigkeiten, das Gelernte auf reale Situationen zu übertragen. Ihre Kommunikation ist meist konstruktiv, aber nicht unbedingt tiefgehend.
  5. Die Außenseiter: In diese heterogene Gruppe fallen Schüler, die aus verschiedenen Gründen am Rand des Klassengeschehens stehen. Dies können Migranten, Mobbingopfer oder Schüler mit auffälligem Konsumverhalten sein. Ihre Beteiligung ist oft gering, kann aber durch gezielte Einbindung gefördert werden. Sie reagieren häufig positiv auf Interaktionen mit externen Mentoren.
  6. Die Leistungsorientierten: Diese Gruppe fokussiert stark auf fachliche Inhalte und objektive Informationen. Sie sind oft an den Kursleitern orientiert, weniger an Peers. Ihr Interesse am Kursthema kann variieren, abhängig davon, wie „wissenschaftlich“ es präsentiert wird. Sie bevorzugen oft faktische Informationen gegenüber Selbstreflexion und sozialen Lerneinheiten.
  7. Die Desillusionierten: Diese Schüler zeigen wenig Interesse und Motivation für präventive Interventionen. Oft haben sie negative Vorerfahrungen mit ähnlichen Programmen oder eine generell skeptische Haltung gegenüber der Schule. Ihre Kommunikation tendiert zum Destruktiven, und sie beteiligen sich kaum aktiv. Eine Veränderung ihrer Haltung erfordert oft besondere pädagogische Bemühungen.
  8. Die Rebellen: Diese Gruppe zeichnet sich durch eine oppositionale Haltung aus. Sie können sowohl positiv durch authentische Kritik als auch negativ durch Störungen auf den Kursverlauf einwirken. Oft steht bei ihnen das Entwicklungsthema „Autonomie“ im Vordergrund, unabhängig vom eigentlichen Kursinhalt. Sie fordern Kursleiter heraus, klare Grenzen zu setzen.

Dynamik und Überlappung der Typen

Ein wichtiger Befund ist, dass die Interaktionsmuster nicht statisch sind. Jugendliche können im Verlauf eines Präventionsprogramms zwischen verschiedenen Mustern wechseln. Zudem können sich die Typen überlappen – ein Schüler kann Merkmale mehrerer Interaktionstypen aufweisen.

Einfluss der Konsumerfahrung

Die Autoren betonen, dass jeder Interaktionstyp zusätzlich durch unterschiedliche Grade an Konsumerfahrung mit psychoaktiven Substanzen moduliert wird. Dies erhöht die Komplexität weiter und erfordert eine noch differenziertere Herangehensweise in der Prävention.

Bedeutung des Lehrer-Interaktionsstils

Die Studie verweist auf den Einfluss des Interaktionsstils der Lehrkräfte. Dieser kann die Wirksamkeit von Präventionsprogrammen stark beeinflussen, wie auch andere Forschungsarbeiten zeigen (z.B. Pettigrew et al., 2013).

Implikationen für die Praxis

Differenzierte Wahrnehmung und Reaktion

Präventionsfachkräfte sollten für die Vielfalt der Interaktionsmuster sensibilisiert werden. Eine differenzierte Wahrnehmung ermöglicht es, flexibel und adaptiv auf unterschiedliche Schülertypen zu reagieren. Beispielsweise könnten „Die Authentischen“ gezielt als positive Multiplikatoren eingebunden werden, während bei „Desillusionierten“ zunächst Motivationsarbeit im Vordergrund stehen sollte.

Schulung von Interaktionskompetenz

Die Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit, Lehrkräfte und andere Präventionsfachkräfte gezielt in Interaktionskompetenz zu schulen. Die Autoren schlagen vor:

  • Situative Kompetenztrainings mit Videofeedback
  • Team-Teaching mit kollegialem Feedback
  • Reflecting-Team-Methoden in der Weiterbildung

Solche Trainings sollten die identifizierten Interaktionstypen berücksichtigen und Strategien für den Umgang mit ihnen vermitteln.

Adaption von Präventionsprogrammen

Bestehende Präventionsprogramme sollten dahingehend überprüft werden, ob sie der Heterogenität der Zielgruppe gerecht werden. Eine Möglichkeit wäre, modulare Elemente zu integrieren, die flexibel an verschiedene Interaktionstypen angepasst werden können.

Förderung von Authentizität und Selbstbezug

Die Studie zeigt, dass authentische Kommunikation und persönlicher Selbstbezug positive Effekte auf die Gruppeninteraktion haben können. Präventionsprogramme sollten daher Räume für authentischen Austausch schaffen und Methoden integrieren, die Selbstreflexion fördern.

Berücksichtigung der Peer-Dynamik

Die identifizierten Interaktionsmuster sind stark durch Peer-Beziehungen geprägt. Präventionsansätze sollten die Gruppendynamik aktiv einbeziehen, beispielsweise durch gezielte Peer-Education-Elemente oder Methoden zur Förderung eines positiven Klassenklimas.

Integration von Konsumerfahrungen

Die unterschiedlichen Grade an Konsumerfahrung erfordern differenzierte Ansätze. Programme sollten sowohl abstinenzorientierte als auch schadensminimierende Elemente beinhalten und flexibel an den Erfahrungsstand der Teilnehmenden angepasst werden können.

Fazit

Die Studie von Kröninger-Jungaberle und Schuldt liefert wichtige Erkenntnisse zur Heterogenität von Zielgruppen in der Suchtprävention. Sie macht deutlich, dass ein „One-size-fits-all“-Ansatz der Komplexität des Feldes nicht gerecht wird. Für die Weiterentwicklung evidenzbasierter Prävention ist es entscheidend, die Vielfalt der Interaktionsmuster zu berücksichtigen und Fachkräfte entsprechend zu qualifizieren.

Die Ergebnisse unterstreichen zudem die Bedeutung einer prozessorientierten Präventionsforschung. Neben der Wirksamkeit von Programminhalten sollten verstärkt Implementierungsprozesse und Interaktionsdynamiken untersucht werden. Nur so können wir zu einem umfassenden Verständnis erfolgreicher Suchtprävention gelangen.

Für Präventionsfachkräfte bietet die vorgestellte Interaktionstypologie einen wertvollen Orientierungsrahmen. Sie kann als Reflexionsgrundlage dienen, um die eigene Praxis kritisch zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Gleichzeitig ist zu beachten, dass die Typologie auf qualitativen Daten basiert und weitere Forschung zur Validierung und Operationalisierung notwendig ist.

Insgesamt leistet die Studie einen wichtigen Beitrag zur Professionalisierung der Suchtprävention. Sie regt dazu an, den Blick zu weiten und Prävention als komplexes Interaktionsgeschehen zu begreifen. Diese differenzierte Perspektive kann dazu beitragen, die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit präventiver Interventionen zu erhöhen.

Literaturverzeichnis

Kröninger-Jungaberle, H., & Schuldt, F. (2014). Abschied von der Homogenität – Eine Interaktions-Typologie von Jugendlichen in der Prävention des Missbrauchs von Alkohol und anderen Drogen. rausch – Wiener Zeitschrift für Suchttherapie, 3(1), 45-57.

McKinney, J. C. (1970). Sociological Theory and the process of Typification. In J. C. McKinney & E. A. Tiryakian (Eds.), Theoretical Sociology. Perspectives and Developments (pp. 235-269). New York: Meredith.

Pettigrew, J., Miller-Day, M., Shin, Y., Hecht, M. L., Krieger, J. L., & Graham, J. W. (2013). Describing Teacher-Student Interactions: A Qualitative Assessment of Teacher Implementation of the 7th Grade keepin‘ it REAL Substance Use Intervention. American Journal of Community Psychology, 51(1-2), 43-56.