In einer Zeit globaler gesundheitlicher Herausforderungen gewinnen Prävention und Gesundheitsförderung an Bedeutung. Die Zunahme nichtübertragbarer Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes sowie der steigende Bedarf an psychischer Gesundheitsversorgung rücken die Wirksamkeit präventiver Maßnahmen in den Fokus. Gleichzeitig stehen Fachkräfte vor der Aufgabe, ihre Praktiken angesichts neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse kontinuierlich zu überprüfen und anzupassen. Dieser Artikel, inspiriert von Thomas Metzingers Werk „Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit: Ein Versuch“ (2013) und dem Editorial von De Bock und Spura (2021) zur Evidenzbasierung, plädiert für eine stärkere wissenschaftliche Fundierung in der Prävention und Gesundheitsförderung. Er richtet sich an Fachkräfte und fordert einen Paradigmenwechsel hin zu einer Praxis, die sich durch intellektuelle Redlichkeit und evidenzbasierte Entscheidungen auszeichnet.

Intellektuelle Redlichkeit: Kern einer ethischen Praxis

Metzinger definiert intellektuelle Redlichkeit als die Bereitschaft, sich selbst nichts vorzumachen und die Wahrheit zu suchen, auch wenn diese unangenehm ist. Er beschreibt sie als eine Form des „inneren Anstands“ und betont die Notwendigkeit eines „bedingungslosen Willens zur Wahrheit und Erkenntnis“. In der Prävention und Gesundheitsförderung bedeutet dies, dass Fachkräfte ihre Methoden und Interventionen ständig hinterfragen müssen, um sicherzustellen, dass sie auf den besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren. Dies erfordert eine kritische Reflexion und Offenheit gegenüber neuen Daten und Erkenntnissen, auch wenn diese den eigenen Überzeugungen oder etablierten Praktiken widersprechen.

Metzinger untersucht die Möglichkeit einer „säkularen Spiritualität“, die auf intellektueller Redlichkeit basiert und sich von traditionellen religiösen Ansätzen abgrenzt. Diese säkulare Spiritualität strebt nach Erkenntnis ohne die Annahme metaphysischer Wahrheiten. In der Prävention und Gesundheitsförderung könnte dies bedeuten, dass Fachkräfte eine Haltung kultivieren, die skeptisch gegenüber vorgefassten Meinungen ist und offen für neue wissenschaftliche Erkenntnisse bleibt. Diese Haltung der intellektuellen Redlichkeit ist ethisch geboten, weil sie Fachkräfte dazu anhält, ihre Arbeit im Lichte der besten verfügbaren Evidenz zu bewerten, was letztlich dem Wohle ihrer Zielgruppen und der Allgemeinheit dient.

Evidenzbasierung: Vom Glauben zum Wissen

Metzinger kontrastiert die Haltung der intellektuellen Redlichkeit mit dem Dogmatismus und Fideismus. Er definiert Dogmatismus als „die These: ‚Es ist legitim, an einer Überzeugung festzuhalten, einfach weil man sie schon hat.'“ (S. 16). Fideismus beschreibt er als die Idee, „dass es völlig legitim ist, an einer Überzeugung auch dann festzuhalten, wenn es keine guten Gründe oder Evidenzen für sie gibt, sogar angesichts überzeugender Gegenargumente“ (S. 16).

Diese Haltungen stehen im direkten Gegensatz zur Evidenzbasierung, wie sie von De Bock und Spura (2021) gefordert wird. Sie betonen, dass „Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung wirksam sein und darüber hinaus weiteren Kriterien eines evidenzbasierten Vorgehens gerecht werden“ müssen (S. 511).

Evidenzbasierung, ursprünglich von Sackett et al. (1996) für die Medizin definiert, bedeutet die gewissenhafte, explizite und vernünftige Nutzung der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung. Übertragen auf die Prävention und Gesundheitsförderung impliziert dies, dass Entscheidungen und Interventionen auf der Grundlage der besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse getroffen werden.

Die ethische Dimension der intellektuellen Redlichkeit

Intellektuelle Redlichkeit und Evidenzbasierung sind eng miteinander verwoben und verstärken sich gegenseitig. Metzinger argumentiert, dass „das aufrichtige Streben nach intellektueller Integrität […] in Wirklichkeit ein wichtiger Sonderfall des Strebens nach moralischer Integrität“ ist (S. 12). In diesem Sinne bildet die intellektuelle Redlichkeit die ethische und kognitive Grundlage für eine evidenzbasierte Praxis.

Metzinger betont die Notwendigkeit, „alle Konflikte zwischen seinem Handeln und seinen Werten“ aufzulösen (S. 12). In der Prävention und Gesundheitsförderung bedeutet dies, dass Fachkräfte bereit sein müssen, ihre Praktiken und Überzeugungen kontinuierlich im Licht neuer Evidenzen zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen.

Ein zentrales ethisches Dilemma in diesem Kontext ist die Spannung zwischen der Notwendigkeit, evidenzbasierte Maßnahmen zu fördern, und der Rücksichtnahme auf kulturelle oder soziale Normen, die solchen Maßnahmen entgegenstehen könnten. Beispielsweise können Impfprogramme auf Widerstand stoßen, wenn sie in Gemeinschaften eingeführt werden, die skeptisch gegenüber modernen medizinischen Praktiken sind. In solchen Fällen müssen Fachkräfte einen Balanceakt vollziehen: Sie müssen die wissenschaftlich belegten Vorteile der Impfungen kommunizieren und gleichzeitig respektvoll auf die Bedenken der Gemeinschaft eingehen, um Vertrauen aufzubauen und die Akzeptanz zu fördern.

Die Verpflichtung zur intellektuellen Redlichkeit verlangt von Fachkräften, dass sie nicht nur fachlich kompetent, sondern auch ethisch integer handeln. Dies beinhaltet, dass sie sich nicht von persönlichen oder institutionellen Interessen leiten lassen, sondern stets das Wohl derjenigen im Blick haben, denen sie dienen. Diese ethische Verantwortung ist besonders wichtig in Bereichen, in denen Entscheidungen direkt die Gesundheit und das Leben von Menschen beeinflussen.

Fazit

Der Weg zu einer evidenzbasierten Prävention und Gesundheitsförderung erfordert einen Kulturwandel. Es geht darum, eine Haltung der intellektuellen Redlichkeit zu kultivieren und kontinuierlich nach wissenschaftlicher Evidenz zu suchen. Metzinger schließt seinen Essay mit der Feststellung, dass „das Mehr-Wissen-Wollen […] die einzige Option [ist], die wir haben, wenn wir unsere Würde und unsere Selbstachtung nicht aufgeben wollen“ (S. 33). Für die Prävention und Gesundheitsförderung bedeutet dies, dass der Weg zur Professionalisierung und gesellschaftlichen Anerkennung über die konsequente Anwendung evidenzbasierter Praktiken und die Kultivierung intellektueller Redlichkeit führt.

Literaturverzeichnis

De Bock, F., & Spura, A. (2021). Evidenzbasierung: Theoriebildung und praktische Umsetzung in Prävention und Gesundheitsförderung. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 64(5), 511-513. https://doi.org/10.1007/s00103-021-03325-w

Metzinger, T. (2013). Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit: Ein Versuch. https://www.blogs.uni-mainz.de/fb05philosophie/files/2014/04/TheorPhil_Metzinger_SIR_2013.pdf

Sackett, D. L., Rosenberg, W. M., Gray, J. A., Haynes, R. B., & Richardson, W. S. (1996). Evidence based medicine: what it is and what it isn’t. BMJ, 312(7023), 71-72. https://doi.org/10.1136/bmj.312.7023.71