In einer Zeit, in der die Bedeutung von Prävention und Gesundheitsförderung zunehmend erkannt wird, stehen Fachkräfte vor der Herausforderung, ihre Arbeit auf eine solide wissenschaftliche Basis zu stellen. Das Memorandum „Evidenzbasierte Prävention und Gesundheitsförderung“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bietet hierzu einen wegweisenden Rahmen. Dieser Blogbeitrag fasst die Kernpunkte des Memorandums zusammen und diskutiert deren Relevanz für die praktische Arbeit im Feld der Prävention und Gesundheitsförderung.

Haupterkenntnisse des Memorandums

1. Definition und Prinzipien evidenzbasierter Prävention und Gesundheitsförderung

Das Memorandum definiert evidenzbasierte Prävention und Gesundheitsförderung als die Integration der besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse mit praktischer Expertise und den Werten und Präferenzen der Zielgruppen. Diese Definition betont die Notwendigkeit, nicht nur auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu setzen, sondern auch die Erfahrungen aus der Praxis und die Bedürfnisse der Zielgruppen zu berücksichtigen.

Dabei werden fünf Kernprinzipien hervorgehoben:

  1. Systematik in der Evidenzsuche und -bewertung: Dies beinhaltet eine strukturierte und umfassende Suche nach relevanten wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie deren kritische Bewertung hinsichtlich Qualität und Anwendbarkeit.
  2. Transparenz im Umgang mit Unsicherheiten: Es ist wichtig, offen zu kommunizieren, wo Wissenslücken bestehen oder Ergebnisse nicht eindeutig sind. Dies fördert das Vertrauen in den Prozess und ermöglicht eine realistische Einschätzung der Evidenzlage.
  3. Integration verschiedener Perspektiven und Partizipation: Neben wissenschaftlichen Erkenntnissen sollten auch die Erfahrungen von Praktikern und die Sichtweisen der Zielgruppen in den Entscheidungsprozess einbezogen werden.
  4. Bewusster Umgang mit Interessenkonflikten: Potenzielle Interessenkonflikte sollten offengelegt und aktiv gemanagt werden, um die Integrität des Entscheidungsprozesses zu gewährleisten.
  5. Strukturierter, reflektierter Prozess der Entscheidungsfindung: Entscheidungen sollten auf Basis eines klar definierten, nachvollziehbaren Prozesses getroffen werden, der regelmäßige Reflexion und Anpassung ermöglicht.

Diese Prinzipien bilden die Grundlage für eine evidenzbasierte Praxis und sollten in allen Phasen der Planung, Umsetzung und Evaluation von Maßnahmen berücksichtigt werden. Sie zielen darauf ab, die Qualität und Wirksamkeit von Präventions- und Gesundheitsförderungsmaßnahmen zu verbessern und gleichzeitig eine verantwortungsvolle und ethische Praxis zu fördern.

2. Spektrum wissenschaftlicher Absicherung

Eine zentrale Erkenntnis des Memorandums ist die Anerkennung eines Spektrums wissenschaftlicher Absicherung von Interventionen. Dieses reicht von „Praxisprojekten“ über „BZgA Promising Practice“ bis hin zu „BZgA Best Evidence“. Diese Kategorisierung ermöglicht es Praktikern, den Evidenzgrad ihrer Maßnahmen einzuordnen und entsprechende Schritte zur Weiterentwicklung zu planen.

  • Praxisprojekte: Dies sind Interventionen, die grundlegend beschrieben sind, aber noch keinen wissenschaftlichen Nachweis ihrer Wirksamkeit haben. Sie bilden oft den Ausgangspunkt für innovative Ansätze in der Prävention und Gesundheitsförderung.
  • BZgA Promising Practice: Diese Kategorie umfasst Interventionen, die auf einer fundierten theoretischen Grundlage basieren und/oder erste positive Ergebnisse in der Praxis zeigen. Sie haben das Potenzial, wirksam zu sein, benötigen aber noch weitere Evaluation.
  • BZgA Best Evidence: Hierbei handelt es sich um Interventionen, deren Wirksamkeit durch robuste wissenschaftliche Studien nachgewiesen wurde. Sie erfüllen die höchsten Standards der Evidenzbasierung.
Kategorie Beschreibung Kriterien
Praxisprojekte Grundlegende Dokumentation – Ausreichend gut beschrieben für Replizierung
BZgA Promising Practice Plausible Wirksamkeitsvoraussetzungen – Gut beschrieben/dokumentiert
– Erfüllt BZgA Kriterien guter Praxis ODER
– Theoretisches/logisches Modell ODER
– Erste empirische Ergebnisse zu intendierten Veränderungen
BZgA Best Evidence Kausaler Wirksamkeitsnachweis – Erfüllt alle Kriterien von „Promising Practice“
– Klarer Wirksamkeitsnachweis unter Alltagsbedingungen

Tabelle 1: Kategorien der wissenschaftlichen Absicherung von Interventionen in der Prävention und Gesundheitsförderung gemäß BZgA-Memorandum

Diese Kategorisierung trägt der Realität Rechnung, dass nicht alle Maßnahmen sofort den höchsten Evidenzstandards entsprechen können, aber dennoch wertvoll für die Praxis sein können. Sie ermutigt zur kontinuierlichen Verbesserung und Evaluation von Interventionen.

3. Transferabilität und Kontextabhängigkeit

Das Memorandum betont die Bedeutung der Transferabilität von Interventionen und deren Kontextabhängigkeit. Es wird hervorgehoben, dass die Wirksamkeit einer Maßnahme stark vom Umsetzungskontext abhängen kann. Fachkräfte werden ermutigt, bei der Übertragung von Interventionen in neue Kontexte sorgfältig die Rahmenbedingungen zu prüfen und gegebenenfalls Anpassungen vorzunehmen.

Wichtige Aspekte der Kontextabhängigkeit umfassen:

  • Kulturelle Faktoren: Werte, Normen und Traditionen der Zielgruppe
  • Sozioökonomische Bedingungen: Einkommensniveau, Bildungsstand, Arbeitsmarktsituation
  • Politische und rechtliche Rahmenbedingungen: Gesetzgebung, Förderstrukturen, politische Prioritäten
  • Infrastrukturelle Gegebenheiten: Verfügbarkeit von Ressourcen, vorhandene Strukturen im Gesundheitssystem

Das Memorandum schlägt vor, bei der Übertragung von Interventionen folgende Schritte zu beachten:

  1. Analyse des ursprünglichen Kontexts der Intervention
  2. Vergleich mit dem neuen Kontext und Identifikation von Unterschieden
  3. Beurteilung der Auswirkungen dieser Unterschiede auf die Wirksamkeit der Intervention
  4. Entwicklung von Anpassungsstrategien, um die Intervention an den neuen Kontext anzupassen
  5. Planung einer begleitenden Evaluation, um die Wirksamkeit im neuen Kontext zu überprüfen

Diese sorgfältige Betrachtung der Transferabilität soll sicherstellen, dass evidenzbasierte Interventionen nicht blind übernommen, sondern intelligent an neue Kontexte angepasst werden.

4. Vernetzung von Wissenschaft und Praxis

Ein weiterer Schlüsselaspekt ist die Forderung nach einer engeren Vernetzung von Wissenschaft und Praxis. Das Memorandum schlägt konkrete Schritte vor, wie diese Zusammenarbeit gestärkt werden kann, um die Evidenzbasierung im Feld voranzutreiben.

Vorgeschlagene Maßnahmen umfassen:

  • Etablierung von Plattformen für den regelmäßigen Austausch zwischen Forschern und Praktikern
  • Förderung von praxisnaher Forschung und forschungsbasierter Praxis
  • Entwicklung von Aus- und Weiterbildungsprogrammen, die sowohl wissenschaftliche als auch praktische Kompetenzen vermitteln
  • Schaffung von Anreizsystemen für Kooperationsprojekte zwischen Forschungseinrichtungen und Praxisorganisationen
  • Förderung von Implementierungsforschung, um die Übertragung von Forschungsergebnissen in die Praxis zu verbessern

Das Memorandum betont, dass eine solche Vernetzung in beide Richtungen wirken sollte: Einerseits sollen wissenschaftliche Erkenntnisse schneller und effektiver in die Praxis übertragen werden. Andererseits sollen Erfahrungen und Herausforderungen aus der Praxis stärker in die Forschungsagenden einfließen.

5. Bedeutung von Implementierungsforschung

Das Memorandum hebt die wachsende Bedeutung der Implementierungsforschung hervor. Diese Forschungsrichtung untersucht, wie evidenzbasierte Interventionen erfolgreich in die Praxis umgesetzt werden können. Sie beschäftigt sich mit Fragen wie:

  • Welche Faktoren beeinflussen die erfolgreiche Umsetzung einer Intervention?
  • Wie können Barrieren bei der Implementierung überwunden werden?
  • Welche Anpassungen sind notwendig, um eine Intervention in verschiedenen Kontexten wirksam zu machen?
  • Wie kann die Nachhaltigkeit von Interventionen gesichert werden?

Die Erkenntnisse aus der Implementierungsforschung sollen dazu beitragen, die Kluft zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und praktischer Anwendung zu überbrücken.

6. Ethische Aspekte der Evidenzbasierung

Das Memorandum betont die Notwendigkeit, ethische Aspekte bei der Umsetzung evidenzbasierter Prävention und Gesundheitsförderung zu berücksichtigen. Dazu gehören:

  • Respekt für die Autonomie der Zielgruppen
  • Beachtung des Prinzips des Nicht-Schadens
  • Förderung von Gerechtigkeit und Chancengleichheit
  • Verantwortungsvoller Umgang mit Ressourcen

Es wird hervorgehoben, dass evidenzbasiertes Handeln nicht nur wissenschaftlich fundiert, sondern auch ethisch reflektiert sein muss.

7. Kontinuierliche Qualitätsentwicklung

Das Memorandum unterstreicht die Bedeutung einer kontinuierlichen Qualitätsentwicklung in der Prävention und Gesundheitsförderung. Dies umfasst:

  • Regelmäßige Überprüfung und Aktualisierung von Qualitätsstandards
  • Entwicklung und Anwendung von Qualitätssicherungsinstrumenten
  • Förderung einer Kultur des lebenslangen Lernens und der ständigen Verbesserung
  • Etablierung von Feedback-Mechanismen zur kontinuierlichen Anpassung von Interventionen

Die kontinuierliche Qualitätsentwicklung wird als wesentlicher Bestandteil einer evidenzbasierten Praxis gesehen, die sich ständig weiterentwickelt und an neue Erkenntnisse und Herausforderungen anpasst.

flowchart TD A[1. Problemdefinition] --> B[2. Evidenzsuche] B --> C[3. Kritische Bewertung] C --> D{4. Evidenz ausreichend?} D -->|Nein| B D -->|Ja| E[5. Kontextanalyse] E --> F[6. Integration und Entscheidung] F --> G[7. Umsetzung] G --> H[8. Evaluation] H --> A

Abbildung 1: Flussdiagramm des evidenzbasierten Entscheidungsprozesses in der Prävention und Gesundheitsförderung. Der Prozess umfasst acht Hauptschritte, beginnend mit der Problemdefinition und endend mit der Evaluation, wobei eine kontinuierliche Rückkopplung zum Ausgangspunkt stattfindet. Ein zentraler Entscheidungspunkt zur Beurteilung der Evidenzlage ermöglicht bei Bedarf eine erneute Evidenzsuche. (Quelle: Eigene Darstellung basierend auf De Bock, Dietrich & Rehfuess, 2021)

Praktische Implikationen für Fachkräfte

Für Fachkräfte in der Prävention und Gesundheitsförderung ergeben sich aus dem Memorandum mehrere wichtige Handlungsempfehlungen:

1. Systematische Evidenznutzung

Praktiker sollten sich angewöhnen, vor der Planung und Umsetzung von Maßnahmen systematisch nach vorhandener Evidenz zu suchen. Das Memorandum empfiehlt hierzu die Nutzung von Portalen für systematische Übersichtsarbeiten wie die Cochrane Library oder Campbell Collaboration. Diese Ressourcen bieten einen guten Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu verschiedenen Interventionsansätzen.

2. Kritische Bewertung und Anpassung von Interventionen

Bei der Auswahl von Interventionen sollten Fachkräfte nicht nur auf die Wirksamkeitsnachweise achten, sondern auch die Übertragbarkeit auf den eigenen Kontext kritisch prüfen. Das Memorandum stellt hierzu eine Checkliste zur Transferabilitätsbeurteilung vor, die bei dieser Einschätzung helfen kann. Wichtige Aspekte sind dabei:

  • Eigenschaften der Intervention
  • Kontextfaktoren (z.B. geografisch, soziokulturell, politisch)
  • Implementierungsbedingungen
  • Charakteristika des Settings

3. Dokumentation und Evaluation

Auch wenn eine Intervention als „Best Evidence“ eingestuft ist, sollten Praktiker ihre Umsetzung sorgfältig dokumentieren und evaluieren. Dies dient nicht nur der Qualitätssicherung, sondern trägt auch zur Weiterentwicklung der Evidenzbasis bei. Das Memorandum empfiehlt hier einen zyklischen Prozess von Implementierung, Evaluation und Anpassung.

4. Aktive Beteiligung an der Evidenzgenerierung

Fachkräfte werden ermutigt, sich aktiv an der Generierung neuer Evidenz zu beteiligen. Dies kann durch die systematische Dokumentation von Praxiserfahrungen, die Teilnahme an Forschungsprojekten oder die Initiierung eigener Evaluationsstudien geschehen. Das Memorandum betont die Bedeutung von „practice-based evidence“ als wichtige Ergänzung zur „evidence-based practice“.

5. Qualifizierung und Netzwerkbildung

Um die Prinzipien der Evidenzbasierung in der Praxis umzusetzen, ist eine kontinuierliche Weiterbildung unerlässlich. Fachkräfte sollten Fortbildungsangebote zur evidenzbasierten Praxis nutzen und sich in fachlichen Netzwerken engagieren, um den Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis zu fördern.

Fazit

Das BZgA-Memorandum zur evidenzbasierten Prävention und Gesundheitsförderung bietet einen umfassenden Rahmen für die Weiterentwicklung des Feldes. Es fordert Fachkräfte auf, ihre Arbeit stärker an wissenschaftlichen Erkenntnissen auszurichten, ohne dabei die Komplexität der Praxis aus den Augen zu verlieren. Die vorgeschlagenen Konzepte und Instrumente bieten konkrete Ansatzpunkte, um die Qualität und Wirksamkeit von Präventions- und Gesundheitsförderungsmaßnahmen zu verbessern.

Die Umsetzung dieser Prinzipien erfordert ein Umdenken in der Praxis und eine Bereitschaft zur kontinuierlichen Reflexion und Anpassung des eigenen Handelns. Gleichzeitig eröffnet sie neue Möglichkeiten für Innovation und Professionalisierung im Feld. Indem Fachkräfte die Brücke zwischen Forschung und Praxis aktiv mitgestalten, können sie einen wesentlichen Beitrag zur Etablierung der Prävention und Gesundheitsförderung als evidenzbasierte Disziplin leisten.

Literaturverzeichnis

De Bock, F., Dietrich, M., & Rehfuess, E. (2021). Evidenzbasierte Prävention und Gesundheitsförderung. Memorandum der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Köln: BZgA. https://www.bzga.de/fileadmin/user_upload/forschung/BZgA_Memorandum_Evidenzbasierung_2021.pdf