Moralisches Verhalten erklärt
Ein minimales Modell der Moral für die Prävention und Gesundheitsförderung
inEthik, Gesundheit, Prävention22. Oktober 2017
In der Prävention und Gesundheitsförderung sind ethische Entscheidungen allgegenwärtig. Ob es um die gerechte Verteilung begrenzter Ressourcen, den sensiblen Umgang mit vertraulichen Gesundheitsdaten oder die Abwägung verschiedener Präventionsansätze geht – moralische Überlegungen durchdringen jeden Aspekt unserer täglichen Arbeit. Diese ethischen Herausforderungen erfordern nicht nur fachliches Wissen, sondern auch ein tiefgreifendes Verständnis der psychologischen Prozesse, die moralischem Verhalten zugrunde liegen.
Um in diesem komplexen Feld fundierte und ethisch vertretbare Entscheidungen treffen zu können, benötigen Fachkräfte in der Prävention und Gesundheitsförderung Werkzeuge und Modelle, die ihnen helfen, moralische Dilemmata zu analysieren und zu bewältigen. Hier setzt das „Minimale Modell der Moral“ (MMM) von Osman und Wiegmann (2016) an, das in diesem Artikel vorgestellt und diskutiert wird.
Das MMM bietet einen innovativen Ansatz, der die oft getrennt betrachteten Bereiche der Moralpsychologie und Moralphilosophie miteinander verbindet. Es postuliert, dass moralisches Verhalten auf denselben kognitiven Prozessen basiert, die auch bei anderen komplexen Entscheidungen zum Einsatz kommen. Diese Perspektive eröffnet neue Möglichkeiten für das Verständnis und die Förderung ethischen Verhaltens in der Praxis der Prävention und Gesundheitsförderung.
Im Folgenden werden wir das MMM detailliert vorstellen, seine empirische Grundlage beleuchten und die Implikationen für die praktische Arbeit in der Prävention und Gesundheitsförderung diskutieren. Dabei legen wir einen besonderen Fokus auf die Integration von Erkenntnissen aus Moralpsychologie und Moralphilosophie und zeigen auf, wie diese Verbindung zu einer reflektierteren und ethisch fundierten Praxis beitragen kann.
Das MMM basiert auf einer fundamentalen These: Moralisches Verhalten beruht nicht auf spezialisierten, evolutionär entstandenen „Moralmodulen“, sondern auf allgemeinen kognitiven Prozessen, die auch in anderen Entscheidungskontexten zum Einsatz kommen. Diese Sichtweise steht im Kontrast zu etablierten Theorien, die von angeborenen moralischen Intuitionen oder spezifischen moralischen Emotionen ausgehen.
Die Autoren argumentieren, dass die neuronalen und psychologischen Mechanismen, die bei der Bewertung von Optionen, der Entscheidungsfindung und der Handlungsplanung in alltäglichen oder ökonomischen Kontexten aktiviert werden, auch die Grundlage für moralische Urteile und Handlungen bilden. Diese domänenübergreifende Perspektive hat weitreichende Implikationen für unser Verständnis moralischen Verhaltens und dessen Förderung.
Konkret bedeutet dies, dass Faktoren wie Arbeitsgedächtnis, exekutive Funktionen, Aufmerksamkeitssteuerung und allgemeine Bewertungsprozesse eine zentrale Rolle bei moralischen Entscheidungen spielen. Diese Sichtweise eröffnet neue Möglichkeiten für die Förderung ethischen Verhaltens, da sie nahelegt, dass Techniken zur Verbesserung allgemeiner Entscheidungsprozesse auch auf moralische Kontexte übertragen werden können.v
Das Minimale Modell der Moral beschreibt den Prozess moralischer Entscheidungsfindung in sechs aufeinanderfolgenden Stufen. Jede dieser Stufen spielt eine wichtige Rolle und kann durch verschiedene Faktoren beeinflusst werden. Hier eine detaillierte Beschreibung der einzelnen Stufen:
Stufe | Beschreibung |
---|---|
1. Repräsentation | Analyse der Umwelt, des eigenen Zustands und der Handlungsoptionen |
2. Bewertung | Integration verschiedener Dimensionen (Wahrscheinlichkeit, Aufwand, Belohnungen, Zeit) zu subjektiven Werten |
3. Handlungsauswahl | Vergleich der subjektiven Werte und Auswahl der Option mit dem höchsten Wert |
4. Handlungsausführung | Motivation und Planung der konkreten Handlungsschritte |
5. Ergebnisbewertung | Beurteilung der Erwünschtheit des Ergebnisses |
6. Lernen | Aktualisierung der Handlungs-Ergebnis-Assoziationen für zukünftige Entscheidungen |
Diese sechs Stufen bilden einen zyklischen Prozess, der sich bei jeder moralischen Entscheidung wiederholt. Das Modell betont, dass jede Stufe durch individuelle Faktoren (z.B. kognitive Fähigkeiten, Persönlichkeitsmerkmale) und situative Einflüsse (z.B. Zeitdruck, emotionale Belastung) beeinflusst werden kann. Durch das Verständnis dieses Prozesses können Fachkräfte in der Prävention und Gesundheitsförderung ihre eigenen moralischen Entscheidungsprozesse besser reflektieren und gezielt an einzelnen Stufen arbeiten, um ethisch fundierte Entscheidungen zu treffen.
Die Annahme domänenübergreifender Prozesse, die dem MMM zugrunde liegt, wird durch eine Vielzahl empirischer Studien aus verschiedenen Forschungsfeldern gestützt. Diese Befunde unterstreichen die Plausibilität des Modells und seine Relevanz für die Praxis. Hier eine Übersicht der wichtigsten empirischen Belege:
Diese empirischen Belege untermauern die zentrale Annahme des MMM, dass moralisches Verhalten auf domänenübergreifenden kognitiven Prozessen beruht. Sie zeigen, dass moralische Entscheidungen nicht grundsätzlich anders funktionieren als andere komplexe Entscheidungen, sondern denselben psychologischen Mechanismen und Einflussfaktoren unterliegen. Diese Erkenntnis eröffnet neue Perspektiven für die Förderung ethischen Verhaltens in der Prävention und Gesundheitsförderung, indem sie nahelegt, dass Techniken zur Verbesserung allgemeiner Entscheidungsprozesse auch auf moralische Kontexte übertragen werden können.
Ein zentraler Aspekt des Minimalen Modells der Moral ist seine Fähigkeit, eine Brücke zwischen Moralpsychologie und Moralphilosophie zu schlagen. Traditionell wurden diese beiden Disziplinen oft als getrennte Bereiche betrachtet, die unterschiedliche Fragen adressieren und verschiedene Methoden verwenden:
Diese traditionelle Trennung basiert auf dem von David Hume (1739) formulierten „Sein-Sollen-Problem“, das besagt, dass man aus rein deskriptiven Aussagen (wie etwas ist) keine normativen Schlussfolgerungen (wie etwas sein sollte) ableiten kann. Trotz dieser logischen Trennung argumentieren Osman und Wiegmann, dass es fruchtbare Berührungspunkte zwischen beiden Disziplinen gibt, insbesondere im Bereich der moralischen Intuitionen.
Das MMM identifiziert moralische Intuitionen als zentrale Schnittstelle zwischen Moralpsychologie und Moralphilosophie:
Das MMM schlägt vor, dass eine engere Zusammenarbeit zwischen Moralpsychologie und Moralphilosophie zu einem tieferen Verständnis moralischen Verhaltens führen kann. Hier eine Übersicht der gegenseitigen Beiträge:
Beiträge der Moralpsychologie zur Philosophie | Beiträge der Moralphilosophie zur Psychologie |
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Diese Wechselwirkung zwischen Moralpsychologie und Moralphilosophie, wie sie vom MMM vorgeschlagen wird, hat das Potenzial, unser Verständnis moralischen Verhaltens erheblich zu vertiefen und neue Perspektiven für die ethische Praxis zu eröffnen.
Das Minimale Modell der Moral und die damit verbundene Integration von Moralpsychologie und Moralphilosophie haben weitreichende Implikationen für die Praxis der Prävention und Gesundheitsförderung. Im Folgenden werden diese Implikationen erläutert und mit konkreten Beispielen versehen:
Das MMM ermöglicht es Fachkräften, ihre eigenen moralischen Entscheidungsprozesse besser zu verstehen und zu reflektieren. Durch das Bewusstsein, dass moralische Entscheidungen auf ähnlichen kognitiven Prozessen beruhen wie andere komplexe Entscheidungen, können ethische Dilemmata systematischer analysiert werden.
Praktische Umsetzung:
Da moralisches Verhalten auf allgemeinen kognitiven Prozessen beruht, können Techniken zur Verbesserung von Entscheidungen auch auf ethische Dilemmata angewendet werden. Dies kann dazu beitragen, emotionale Verzerrungen zu reduzieren und ausgewogenere Urteile zu fällen.
Praktische Umsetzung:
Das MMM verdeutlicht, dass moralisches Verhalten stark vom Kontext und der Repräsentation der Situation abhängt. Durch gezielte Gestaltung von Entscheidungsumgebungen kann ethisches Verhalten gefördert werden.
Praktische Umsetzung:
Basierend auf dem MMM sollte moralische Bildung nicht nur auf die Vermittlung ethischer Prinzipien abzielen, sondern auch die zugrundeliegenden kognitiven Kompetenzen fördern.
Praktische Umsetzung:
Das MMM macht deutlich, dass moralisches Verhalten von individuellen kognitiven Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmalen beeinflusst wird. Dies sollte bei der Gestaltung von Interventionen und der Personalentwicklung berücksichtigt werden.
Praktische Umsetzung:
Die vom MMM vorgeschlagene Verbindung von Moralpsychologie und Moralphilosophie sollte auch in der praktischen Ethikberatung und -entscheidungsfindung berücksichtigt werden.
Praktische Umsetzung:
Das Minimale Modell der Moral (MMM) von Osman und Wiegmann bietet einen vielversprechenden Ansatz zur Integration von Moralpsychologie und Moralphilosophie in der Praxis der Prävention und Gesundheitsförderung. Durch die Betonung domänenübergreifender kognitiver Prozesse eröffnet es neue Perspektiven für das Verständnis und die Förderung ethischen Verhaltens.
Die Stärke des Modells liegt in seiner Fähigkeit, komplexe moralische Entscheidungsprozesse in überschaubare Komponenten zu zerlegen und gleichzeitig die Verbindungen zwischen empirischen Erkenntnissen und normativen Überlegungen aufzuzeigen. Für Fachkräfte in der Prävention und Gesundheitsförderung bietet es konkrete Ansatzpunkte zur Reflexion und Verbesserung ihrer ethischen Entscheidungsfindung.
Die Umsetzung des MMM in die Praxis erfordert von den Fachkräften eine doppelte Kompetenz: Einerseits müssen sie die psychologischen Mechanismen verstehen, die moralischem Urteilen und Handeln zugrunde liegen. Andererseits benötigen sie die Fähigkeit zur ethischen Reflexion und Argumentation. Diese Kombination aus empirischem Wissen und normativer Kompetenz ist entscheidend, um der Komplexität moralischer Herausforderungen im Arbeitsfeld der Prävention und Gesundheitsförderung gerecht zu werden.
Trotz noch offener Fragen bietet das MMM eine vielversprechende Grundlage für die Weiterentwicklung einer ethisch reflektierten und wissenschaftlich fundierten Praxis. Die Integration von Erkenntnissen aus Moralpsychologie und Moralphilosophie in die tägliche Arbeit kann einen wichtigen Beitrag zu einer verantwortungsvollen und wirksamen Prävention und Gesundheitsförderung leisten.
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