Schulgesundheitsfachkraft
System vor Personal
inForschung, Prävention22. Juni 2025
Die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland ist prekär. Wie Hanna Richter und Kolleginnen (2025) in ihrem Positionspapier darlegen, leiden hohe Anteile von Schüler:innen unter multiplen Gesundheitsbeschwerden (Reiß et al., 2024, zitiert nach Richter et al., 2025) und weisen eine geringe Gesundheitskompetenz auf – ein Defizit, das eng mit der sozialen Herkunft korreliert (Sendatzki et al., 2024, zitiert nach Richter et al., 2025). Diese Befunde sind mehr als nur statistische Werte; sie sind ein Alarmsignal, das auf tieferliegende, strukturelle Probleme im System Schule hinweist.
Die entscheidende Frage lautet: Sind diese Gesundheitsprobleme primär das Resultat mangelnder individueller Fähigkeiten, oder sind sie Symptome eines strukturell ungesunden Systems? Die Antwort darauf entscheidet, ob Prävention sich in der Behandlung von Symptomen erschöpft oder ob sie an den Ursachen ansetzt und so einen echten Beitrag zur Verringerung der „sozial bedingten Ungleichheit von Gesundheitschancen“ leistet, wie es der GKV-Spitzenverband (2024) im Leitfaden Prävention fordert.
Das Positionspapier von Richter et al. (2025) spiegelt eine zentrale Herausforderung der aktuellen Debatte wider: die Spannung zwischen der Stärkung individueller Gesundheitskompetenz (Verhaltensprävention) und der Gestaltung gesundheitsförderlicher Rahmenbedingungen (Verhältnisprävention). Die Autorinnen erkennen die Bedeutung beider Ansätze an und nehmen die „Entwicklung eines gesundheitsförderlichen Schulumfelds“ richtigerweise in ihr Anforderungsprofil auf.
Die entscheidende Schwäche liegt jedoch darin, dass die konzeptionelle und personelle Umsetzung dieser beiden fundamental unterschiedlichen Ansätze unklar bleibt. Während der Fokus stark auf die „Gesundheitskompetenz“ gelegt wird, bleibt die Frage offen, wie eine einzelne Fachkraft sowohl für die individuelle Versorgung als auch für die komplexe Aufgabe der systemischen Organisationsentwicklung qualifiziert und mandatiert sein kann. Diese Unschärfe birgt die Gefahr, dass die Verhältnisprävention zur rhetorischen Floskel verkommt, während die Praxis sich auf die leichter umsetzbare, aber weniger nachhaltige Verhaltensprävention konzentriert. Ein solcher Ansatz droht, Verantwortung zu individualisieren („i-frame“) und die strukturellen Ursachen von Gesundheitsproblemen unangetastet zu lassen (vgl. García-Pérez et al., 2025)
Um die Verhältnisse zu verstehen, die Gesundheit formen, bietet die Präventionswissenschaft das Modell der Risiko- und Schutzfaktoren an. Gesundheitsprobleme und Problemverhalten entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern aus einem komplexen Zusammenspiel von belastenden (Risiko-) und stärkenden (Schutz-) Faktoren in den zentralen Lebenswelten der Kinder: Familie, Peergruppe, Kommune und Schule (Farrington et al., 2021).
Gerade die Schule ist ein entscheidendes Setting. Hier wirken zentrale Faktoren direkt auf die Gesundheit der Schüler:innen ein:
Diese Faktoren sind keine Nebensächlichkeiten, sondern der Kern schulischer Gesundheitsförderung. Und sie liegen eindeutig im Verantwortungsbereich der pädagogischen Fachkräfte. Wie die Kultusministerkonferenz (KMK, 2012) unmissverständlich festhält, ist Gesundheitsförderung ein „integraler Bestandteil von Schulentwicklung“ und damit eine Kernaufgabe von Schulleitung und Kollegium.
Vor diesem Hintergrund muss die Forderung nach einer flächendeckenden Etablierung von Schulgesundheitsfachkräften (SGFK) differenziert und kritisch geprüft werden. Die aktuelle Debatte ist jedoch geprägt durch konzeptionelle Unschärfe, die ihre potenzielle Wirksamkeit untergraben.
Die von Richter et al. (2025) geforderte Etablierung von SGFK krankt an einer zentralen konzeptionellen Unschärfe, die im Papier selbst deutlich wird. Das beschriebene Aufgabenspektrum ist enorm und reicht von der medizinischen Erstversorgung über die individuelle Gesundheitsförderung bis hin zur Organisationsentwicklung eines „gesundheitsförderlichen Schulumfelds“. Die Autorinnen stellen selbst fest, dass das Aufgabenspektrum zwischen den Bundesländern stark variiert und es keine nationalen Standards zur Qualifikation gibt.
Genau hier liegt das Risiko: Es wird das Bild einer Profession gezeichnet, die medizinische Versorgung, pädagogische Wissensvermittlung und strategische Organisationsentwicklung vereinen soll. Dies vermischt die Rolle einer reaktiven School Nurse, die individuelle Probleme behandelt, mit der eines proaktiven Change Agents oder Public Health Managers, der systemische Verhältnisse gestaltet. Es ist höchst fraglich, ob eine Person diese gegensätzlichen Anforderungsprofile sinnvoll ausfüllen kann. Die Gefahr ist, dass die komplexe, aber entscheidende Organisationsentwicklung auf der Strecke bleibt.
Vor dem Hintergrund dieser konzeptionellen Unschärfen wiegt die Forderung nach „gesetzlicher Verankerung und langfristiger Finanzierung“ besonders schwer. Richter et al. (2025) räumen selbst ein, dass die „Evidenz von School Nursing überwiegend begrenzt“ ist und die bisherige Umsetzung in Deutschland „stark fragmentiert“ verläuft. Eine flächendeckende Implementierung eines derart personell aufwendigen Modells zu fordern, dessen Rollenprofil unklar und dessen Wirksamkeit für die so wichtige Verhältnisebene unbelegt ist, widerspricht den Grundprinzipien evidenzbasierter Entscheidungsfindung [BZgA, 2021; Gottfredson et al., 2015]. Bevor hohe öffentliche Mittel in die Schaffung einer neuen Profession fließen, ist es zwingend geboten, zunächst die grundlegenden Fragen zu klären: Welche Aufgaben müssen im System Schule wirklich erfüllt werden, und welche bestehenden oder neu zu definierenden Rollen können dies mit nachweisbarer Wirksamkeit am besten tun?
Die Bearbeitung von Risiko- und Schutzfaktoren ist eine pädagogische Kernaufgabe. Die Qualität des Unterrichts, das Klassenklima und die Lehrer-Schüler-Beziehung können nicht an eine einzelne Fachkraft delegiert werden. Die Einführung einer SGFK mit unklarem Mandat birgt die immense Gefahr, dass Lehrkräfte und Schulleitung sich aus dieser Verantwortung zurückziehen. Die SGFK würde zur „Reparaturwerkstatt“ für individuelle Probleme, während das System, das diese Probleme mitverursacht, unangetastet bleibt.
Dieses Plädoyer ist keine grundsätzliche Ablehnung von zusätzlichem Fachpersonal. Es ist ein Aufruf, Rollen und Aufgaben klar zu definieren, um die beklagten Doppel- und Dreifachstrukturen zu vermeiden und stattdessen wirksame Synergien zu schaffen.
Für eine systemische und evidenzbasierte Gesundheitsförderung könnte eine SGFK eine wertvolle strategische Rolle einnehmen: als Public Health Managerin der Schule. Ihre Kernaufgabe wäre nicht die Einzelfallhilfe, sondern die Steuerung eines evidenzbasierten Schulentwicklungsprozesses im Rahmen einer integrierten kommunalen Präventionsstrategie. Analog zu Ansätzen wie „Communities That Care“ (Farrington et al., 2021) wäre sie verantwortlich für:
In dieser Rolle wäre sie keine Konkurrenz, sondern eine fachliche Stabsstelle für die Schulleitung. Die Abgrenzung zur Schulsozialarbeit (Fokus: soziale und emotionale Unterstützung im Einzelfall und in Gruppen) und zur Schulpsychologie (Fokus: Diagnostik und Intervention bei psychischen Störungen und Lernschwierigkeiten) wäre klar. Der entscheidende Punkt ist: Diese strategische Rolle muss explizit geschaffen und mit den entsprechenden Kompetenzen und Ressourcen ausgestattet werden. Denkbar wäre auch, dass diese Rolle von einer entsprechend qualifizierten Schulsozialarbeiterin oder einem Mitglied der Schulleitung übernommen oder durch externe Prozessbegleitung, wie sie in mehreren Bundesländern bereits besteht, ausgefüllt wird.
Ist die strategische, systemische Rolle des Public Health Managements klar verortet, entsteht Raum für eine sinnvolle Ergänzung: eine klassische School Nurse mit einem klaren medizinisch-pflegerischen Profil. Ihre Aufgabe wäre die individuelle Versorgung – von der Betreuung chronisch kranker Kinder über die Erstversorgung bei Unfällen bis hin zur Ansprechperson für akute gesundheitliche Fragen. Sie würde das multiprofessionelle Team entlasten und wäre eine wertvolle Ergänzung, eben weil ihre Rolle klar definiert und nicht mit den systemischen Aufgaben der anderen Professionen überlappend wäre.
Die Debatte um Schulgesundheitsfachkräfte muss von der Frage „Brauchen wir eine neue Profession?“ zur Frage „Welche Aufgaben müssen im System Schule erfüllt werden und wer hat dafür die beste Qualifikation?“ übergehen. Die gesundheitliche Schieflage vieler Schüler:innen ist ein gesellschaftliches Versagen, das eine systemische Antwort erfordert.
Diese Antwort liegt in der konsequenten Verankerung von Verhältnisprävention und Evidenzbasierung als Leitprinzipien der Schulentwicklung. Gesundheit ist eine nicht delegierbare Führungs- und Kollegiumsaufgabe. Die wahre Herausforderung besteht darin, Schulen zu Orten zu machen, die Gesundheit durch ihre Strukturen fördern und soziale Ungleichheit aktiv abbauen. Die kluge Definition und Besetzung von Rollen in einem multiprofessionellen Team ist dabei ein entscheidender Schritt. Alles andere bleibt eine gut gemeinte, aber letztlich unwirksame Symptombehandlung, die die eigentlichen Ursachen unangetastet lässt.
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). (2021). Evidenzbasierte Prävention und Gesundheitsförderung. Memorandum der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Konzepte, Band 6). BZgA.
Farrington, D. P., Jonkman, H., & Groeger-Roth, F. (Eds.). (2021). Delinquency and substance use in Europe: Understanding risk and protective factors. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-030-58442-9
García-Pérez, Á., González-Roz, A., & Burkhart, G. (2025). Environmental prevention of addictive behaviors. Papeles del Psicólogo/Psychologist Papers, 46(2), 108–117. https://doi.org/10.70478/pap.psicol.2025.46.14
GKV-Spitzenverband. (2024). Leitfaden Prävention. Handlungsfelder und Kriterien nach § 20 Abs. 2 SGB V zur Umsetzung der §§ 20, 20a und 20b SGB V (Fassung vom 19. Dezember 2024). GKV-Spitzenverband.
Gottfredson, D. C., Cook, T. D., Gardner, F. E. M., Gorman-Smith, D., Howe, G. W., Sandler, I. N., & Zafft, K. M. (2015). Standards of Evidence for Efficacy, Effectiveness, and Scale-up Research in Prevention Science: Next Generation. Prevention Science, 16(7), 893–926. https://doi.org/10.1007/s11121-015-0555-x
Kultusministerkonferenz. (2012, 15. November). Empfehlung zur Gesundheitsförderung und Prävention in der Schule (Beschluss der Kultusministerkonferenz). Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland.
Reiß, F., Behn, S., Erhart, M., Strelow, L., Kaman, A., Ottová-Jordan, V., Bilz, L., Moor, I., & Ravens-Sieberer, U. (2024). Subjektive Gesundheit und psychosomatische Beschwerden von Kindern und Jugendlichen in Deutschland: Ergebnisse der HBSC-Studie 2009/10–2022. Journal of Health Monitoring, 9(1), 7–24. (Zitiert nach Richter et al., 2025).
Richter, H., Kühne, L., Quante-Brandt, E., & Mamontova, T. (2025). Schulgesundheitsfachkräfte in Deutschland. Potenzial erkennen und Gesundheitskompetenz weiterentwickeln. Prävention und Gesundheitsförderung. https://doi.org/10.1007/s11553-025-01234-3
Sendatzki, S., Helmchen, R. M., Moor, I., Sudeck, G., Dadaczynski, K., & Rathmann, K. (2024). Gesundheitskompetenz von Schülerinnen und Schülern in Deutschland – Ergebnisse der HBSC-Studie 2022. Journal of Health Monitoring, 9(1), 25–45. (Zitiert nach Richter et al., 2025).