Verhältnisprävention bei riskanten Konsummustern und Verhaltensweisen
Ein unterschätzter Ansatz mit großem Potenzial
inForschung, Prävention9. Juni 2025
Basierend auf: García-Pérez, Á., González-Roz, A., & Burkhart, G. (2025). Environmental prevention of addictive behaviors. Papeles del Psicólogo/Psychologist Papers, 46(2), 108-117. https://doi.org/10.70478/pap.psicol.2025.46.14
Hinweis: Alle Literaturverweise in diesem Blogbeitrag sind, sofern nicht anders angegeben, Sekundärzitate aus dem oben genannten Originalartikel.
Riskante Konsummuster und Verhaltensweisen bleiben sowohl in Deutschland als auch in anderen europäischen Ländern eine der größten Herausforderungen für die öffentliche Gesundheit. Die damit verbundenen Kosten – von Primärversorgung über spezialisierte Behandlungseinrichtungen bis hin zu Krankenhausaufenthalten und konsumbedingter Mortalität – belasten unsere Gesundheitssysteme erheblich. Als Fachkräfte in der Prävention und Gesundheitsförderung stehen wir vor der komplexen Aufgabe, wirksame Strategien zu entwickeln, die über traditionelle, auf das Individuum fokussierte Ansätze hinausgehen.
Der vorliegende Artikel von García-Pérez, González-Roz und Burkhart (2025) beleuchtet einen in der Praxis oft vernachlässigten, aber hochwirksamen Präventionsansatz: die Verhältnisprävention (environmental prevention). Diese Strategie zielt darauf ab, die physischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Kontexte zu verändern, in denen Menschen Entscheidungen treffen – ein Perspektivwechsel, der für unsere präventive Arbeit von entscheidender Bedeutung ist.
Die traditionelle Präventionsarbeit basierte lange auf der Annahme des „homo oeconomicus“ – eines vollkommen rational handelnden Menschen, der auf Basis vollständiger Information optimale Entscheidungen trifft. Diese Sichtweise führte zu Interventionen, die primär auf Wissensvermittlung über Risiken und Folgen von riskantem Konsum setzten. Die Forschung zeigt jedoch eindeutig: Interventionen, die ausschließlich auf Informationsvermittlung basieren, sind weitgehend wirkungslos (Observatorio Europeo de las Drogas y las Toxicomanías, 2019; UNODC, 2018; zitiert nach García-Pérez et al., 2025). Noch beunruhigender ist die Erkenntnis, dass erhöhtes Wissen über illegale Drogen sogar einen Risikofaktor für deren Konsum darstellen kann (Alves et al., 2021, zitiert nach García-Pérez et al., 2025).
Die Verhaltensökonomie und insbesondere die „Nudge-Theorie“ bieten eine realistischere Perspektive auf menschliches Entscheidungsverhalten. Menschen nutzen Heuristiken (mentale Abkürzungen) und werden stark von ihrem unmittelbaren Kontext, emotionalen Zuständen und ihrer Lerngeschichte beeinflusst. Das von García-Pérez et al. beschriebene Cafeteria-Beispiel illustriert dies eindrücklich: Die Platzierung von Desserts an prominenter Stelle erhöht deren Konsum signifikant – unabhängig vom Wissen über gesunde Ernährung.
Diese Erkenntnisse haben tiefgreifende Implikationen für unsere Präventionsarbeit: Statt uns ausschließlich auf die Stärkung individueller Kompetenzen zu konzentrieren, müssen wir die Umgebungen gestalten, in denen Entscheidungen getroffen werden.
Von der Informationsvermittlung zur Kontextgestaltung
"Homo Oeconomicus"
"Nudge-Theorie"
Der Paradigmenwechsel erfordert ein Umdenken: Statt ausschließlich auf individuelle Stärkung zu setzen, müssen wir die Umgebungen gestalten, in denen Menschen leben und Entscheidungen treffen. Beide Ansätze ergänzen sich: Verhältnisprävention schafft förderliche Kontexte, in denen individuelle Präventionsprogramme ihre volle Wirkung entfalten können.
Regulatorische Interventionen bilden das Rückgrat effektiver Verhältnisprävention. Die Evidenz zeigt, dass Werbeverbote für Produkte und Angebote mit Abhängigkeitspotenzial zu den wirksamsten Präventionsmaßnahmen gehören. Komplette Werbeverbote reduzieren den Konsum deutlich effektiver als partielle Beschränkungen (Quentin et al., 2007, zitiert nach García-Pérez et al., 2025). Die Anhebung des Mindestalters für Alkoholkonsum von 16 auf 18 Jahre in Spanien führte zu einer 21%igen Reduktion des Konsums bei Minderjährigen (Brachowicz & Vall Castello, 2019, zitiert nach García-Pérez et al., 2025).
Besonders effektiv erweisen sich auch Verkaufsbeschränkungen: Die Limitierung von Verkaufstagen und -zeiten für Alkohol (Hahn et al., 2010, zitiert nach García-Pérez et al., 2025), die Erhöhung der Preise für Tabakverkaufslizenzen (Bowden et al., 2014, zitiert nach García-Pérez et al., 2025) und die Reduzierung von Glücksspielautomaten (Erwin et al., 2021, zitiert nach García-Pérez et al., 2025) führen nachweislich zu weniger Konsum und konsumbezogenen Problemen. Die Einführung rauchfreier Zonen reduzierte die Raucherprävalenz um etwa 10% und schützt gleichzeitig Nichtraucher vor Passivrauch (Hopkins et al., 2010; Levy et al., 2018; zitiert nach García-Pérez et al., 2025).
Fiskalpolitische Maßnahmen gehören zu den wirksamsten Instrumenten der Verhältnisprävention. Eine Verdopplung der Alkoholsteuern und eine 50%ige Erhöhung der Tabaksteuern führen jeweils zu einer etwa 10%igen Konsumreduktion (Kilian et al., 2023; Levy et al., 2018; zitiert nach García-Pérez et al., 2025). Diese Maßnahmen sind besonders bei jüngeren und vulnerablen Bevölkerungsgruppen wirksam, da diese preissensibler reagieren.
Gleichzeitig sollten gesunde Alternativen finanziell attraktiver gestaltet werden. Die Subventionierung von Sportangeboten, kulturellen Aktivitäten und alkoholfreien Veranstaltungen schafft konkurrierende Verstärker zum Substanzkonsum. Wie die Autoren betonen, ist es problematisch, wenn ein Glas Orangensaft teurer ist als ein Bier – hier besteht in vielen europäischen Ländern dringender Handlungsbedarf.
Die subtilste, aber oft effektivste Form der Verhältnisprävention ist die Gestaltung physischer Räume. Die Verwendung schmaler, hoher Gläser statt breiter, niedriger Gefäße kann den Alkoholkonsum um bis zu 20% reduzieren (Kersbergen et al., 2018; Langfield et al., 2022; zitiert nach García-Pérez et al., 2025). Das vollständige Verbergen von Tabakprodukten an Verkaufsstellen reduziert das Risiko des späteren Konsums bei Jugendlichen signifikant (Dunbar et al., 2019; Martino et al., 2024; zitiert nach García-Pérez et al., 2025).
Bei Glücksspielangeboten zeigen strukturelle Veränderungen ebenfalls Wirkung: Die Verlängerung der Zeit zwischen Einsatz und Gewinnausschüttung um nur sieben Sekunden reduziert Fehlwahrnehmungen über Kontrollmöglichkeiten deutlich (Cloutier et al., 2006, zitiert nach García-Pérez et al., 2025). Limits für Einsätze und Einzahlungen auf Online-Glücksspielkonten verringern sowohl die Spielbeträge als auch damit verbundene finanzielle Verluste (Broda et al., 2008; Sharpe et al., 2005; zitiert nach García-Pérez et al., 2025).
Evidenzbasierte Strategien zur Reduktion riskanter Konsummuster und Verhaltensweisen
Gesetzliche Regelungen und Vorschriften zur Kontrolle von Verfügbarkeit und Zugang
Preisgestaltung und finanzielle Anreize zur Verhaltenssteuerung
Veränderung der physischen Umgebung zur Förderung gesunder Entscheidungen
Für Fachkräfte in der Prävention bedeutet die Verhältnisprävention keinesfalls das Ende individuumszentrierter Ansätze. Vielmehr geht es um eine sinnvolle Integration: Informations- und kompetenzorientierte Programme entfalten ihre beste Wirkung in Umgebungen, die gesundheitsförderliches Verhalten unterstützen. Ein Präventionsprogramm zu Alkohol in der Schule wird effektiver, wenn gleichzeitig die Verfügbarkeit von Alkohol im Schulumfeld eingeschränkt wird.
Die Umsetzung verhältnispräventiver Maßnahmen erfordert von Präventionsfachkräften verstärkt Kompetenzen in Advocacy und Politikberatung. Wir müssen in der Lage sein, Entscheidungsträger von der Wirksamkeit dieser Ansätze zu überzeugen und dabei die oft starken Widerstände der Alkohol-, Tabak- und Glücksspielindustrie zu überwinden. Das Europäische Präventionscurriculum (EUPC) bietet hierfür wichtige Qualifizierungsmöglichkeiten.
Die größten Hindernisse für die Umsetzung verhältnispräventiver Maßnahmen sind oft nicht wissenschaftlicher, sondern politischer und wirtschaftlicher Natur. Die betroffenen Industrien wehren sich mit erheblichen Ressourcen gegen Regulierungen und verschieben die Verantwortung auf das Individuum. Als Präventionsfachkräfte müssen wir diese Narrative durchbrechen und die gesellschaftliche Verantwortung für gesundheitsförderliche Lebenswelten betonen.
Die Verhältnisprävention stellt einen fundamentalen Perspektivwechsel in der Prävention riskanter Konsummuster und Verhaltensweisen dar. Statt ausschließlich auf die Stärkung individueller Kompetenzen zu setzen, gestalten wir die Kontexte, in denen Menschen leben und Entscheidungen treffen. Die von García-Pérez et al. (2025) zusammengetragene Evidenz zeigt eindeutig: Verhältnispräventive Maßnahmen sind oft wirksamer als traditionelle, auf das Individuum fokussierte Ansätze.
Für unsere Arbeit als Präventionsfachkräfte bedeutet dies, über die Grenzen klassischer Präventionsprogramme hinauszudenken. Wir müssen zu Gestaltern gesundheitsförderlicher Lebenswelten werden – durch Politikberatung, intersektorale Zusammenarbeit und die konsequente Nutzung wissenschaftlicher Evidenz. Die hohen sozialen und gesundheitlichen Kosten von riskanten Konsummustern und Verhaltensweisen rechtfertigen nicht nur, sondern erfordern diesen umfassenden Ansatz. Verhältnisprävention ist dabei keine Bevormundung, sondern – wie die Autoren betonen – ein Akt sozialer Gerechtigkeit, der besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen schützt.
Die Zeit ist reif für einen Paradigmenwechsel in der Prävention riskanter Konsummuster. Die Evidenz liegt vor, die Instrumente sind bekannt – nun liegt es an uns, sie mit den zu Verfügung stehenden Mitteln wie dem Gesetz zur Stärkung der Prävention und Gesundheitsförderung konsequent umzusetzen.
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Bowden, J. A., Dono, J., John, D. L., & Miller, C. L. (2014). What happens when the price of a tobacco retailer licence increases? Tobacco Control, 23(2), 178–180. https://doi.org/10.1136/tobaccocontrol-2012-050615
Brachowicz, N., & Vall Castello, J. (2019). Is changing the minimum legal drinking age an effective policy tool? Health Economics, 28(12), 1483–1490. https://doi.org/10.1002/hec.3955
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Cloutier, M., Ladouceur, R., & Sévigny, S. (2006). Responsible gambling tools: Pop-up messages and pauses on video lottery terminals. The Journal of Psychology, 140(5), 434–438. https://doi.org/10.3200/JRLP.140.5.434-438
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García-Pérez, Á., González-Roz, A., & Burkhart, G. (2025). Environmental prevention of addictive behaviors. Papeles del Psicólogo/Psychologist Papers, 46(2), 108–117. https://doi.org/10.70478/pap.psicol.2025.46.13
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Kilian, C., Lemp, J. M., Llamosas-Falcón, L., Carr, T., Ye, Y., Kerr, W. C., Mulia, N., Puka, K., Lasserre, A. M., Bright, S., Rehm, J., & Probst, C. (2023). Reducing alcohol use through alcohol control policies in the general population and population subgroups: A systematic review and meta-analysis. eClinicalMedicine, 59, 101996. https://doi.org/10.1016/j.eclinm.2023.101996
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