In einer Zeit, in der digitale Technologien zunehmend unseren Alltag prägen, stellt sich die Frage, wie diese Entwicklung für die Suchtprävention bei Jugendlichen genutzt werden kann. Der kürzlich veröffentlichte Artikel „App-Based Addiction Prevention at German Vocational Schools: Implementation and Reach for a Cluster-Randomized Controlled Trial“ von Guertler et al. (2024) liefert hierzu wertvolle Einblicke. Die Studie untersucht die Implementierung und Reichweite des digitalen Präventionsprogramms „ready4life“ an deutschen Berufsschulen und bietet damit wichtige Erkenntnisse für Fachkräfte in der Suchtprävention und Gesundheitsförderung.

Die „ready4life“-App: Ein Ansatz zur digitalgestützten Suchtprävention

„ready4life“ ist eine mobile Anwendung, die speziell für die Suchtprävention bei Berufsschülern entwickelt wurde. Sie kombiniert moderne Technologie mit bewährten Präventionsstrategien und bietet damit einen innovativen Ansatz zur Gesundheitsförderung junger Menschen. Die Hauptmerkmale der App umfassen:

  • Personalisierte Inhalte: Basierend auf einem initialen Screening erhalten die Nutzer ein individuelles Risiko- und Kompetenzprofil.
  • Modulare Struktur: Die App bietet sechs verschiedene Module: Alkohol, Tabak, Cannabis, Social Media/Gaming, Stressmanagement und soziale Kompetenzen. Nutzer können zwei Module auswählen, die für sie am relevantesten sind.
  • Interaktives Coaching: Über einen Zeitraum von 16 Wochen erhalten die Teilnehmer wöchentliche 5-minütige Chats mit einem Chatbot, der vorher festgelegte Dialoge führt.
  • Multimediale Inhalte: Die App integriert Videos, Bilder und Links, um die Informationen ansprechend zu präsentieren.
  • Gamification-Elemente: Quizze, Wettbewerbe und ein Punktesystem sollen die Motivation und das Engagement der Nutzer fördern.
  • Expertenunterstützung: Eine „Frag-den-Experten“-Funktion ermöglicht den Zugang zu professioneller Hilfe bei spezifischen Fragen oder Problemen.

Die App zielt darauf ab, nicht nur suchtspezifische Themen zu adressieren, sondern auch allgemeine Lebenskompetenzen zu fördern. Durch den niedrigschwelligen, digitalen Zugang und die Möglichkeit zur Selbstauswahl der Themen soll „ready4life“ insbesondere jene Jugendlichen erreichen, die möglicherweise weniger Interesse an traditionellen Präventionsangeboten zeigen. Die Studie von Guertler et al. (2024) untersucht nun, wie effektiv dieser innovative Ansatz in der praktischen Umsetzung an deutschen Berufsschulen ist.

Haupterkenntnisse

1. Implementierung und Anpassungsfähigkeit während der Pandemie

Ein zentraler Aspekt der Studie war die Untersuchung, wie das „ready4life“-Programm während der COVID-19-Pandemie implementiert werden konnte. Die Ergebnisse zeigen eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit:

  • Fast die Hälfte (49,7%) der Einführungen konnte trotz Pandemiebeschränkungen persönlich durchgeführt werden.
  • 43,1% der Einführungen fanden digital oder hybrid statt.
  • Nur 7,2% der Einführungen erfolgten ausschließlich per E-Mail.

Diese Flexibilität in der Implementierung ermöglichte es, das Programm auch unter herausfordernden Bedingungen fortzuführen. Interessanterweise zeigte sich, dass persönliche Einführungen zu höheren Teilnahmeraten führten als digitale oder E-Mail-basierte Ansätze. Dies unterstreicht die Bedeutung des persönlichen Kontakts in der Präventionsarbeit, selbst wenn digitale Tools im Mittelpunkt stehen.

2. Teilnahmeraten und Einflussfaktoren

Die Studie liefert detaillierte Einblicke in die Teilnahmeraten und die Faktoren, die diese beeinflussen:

  • Insgesamt luden 72,3% der angesprochenen Berufsschüler die App herunter.
  • 46,7% gaben ihre informierte Einwilligung zur Studienteilnahme.

Diese Raten sind angesichts der pandemiebedingten Herausforderungen beachtlich und zeigen das Potenzial app-basierter Ansätze in der Suchtprävention. Interessant sind vor allem die Faktoren, die mit einer höheren Teilnahmebereitschaft assoziiert waren:

Auf Klassenebene:

  • Höhere Teilnahmeraten bei (angehenden) Fachkräften und in Berufsgymnasialklassen
  • Bessere Resonanz bei Einführungen durch jüngere Personen und Mitglieder des Projektteams
  • Höhere Beteiligung bei persönlichen Einführungen im Vergleich zu digitalen Formaten

Auf individueller Ebene:

  • Höhere Teilnahmebereitschaft bei weiblichen Teilnehmenden
  • Stärkeres Interesse bei Schülern mit geringeren sozialen Kompetenzen
  • Höhere Beteiligung von Personen mit Cannabis-Konsumerfahrung, problematischer Internetnutzung und höherem wahrgenommenen Stress

Diese Erkenntnisse sind für Präventionsfachkräfte besonders wertvoll, da sie Hinweise darauf geben, welche Gruppen besonders gut durch app-basierte Ansätze erreicht werden können und wo möglicherweise zusätzliche Anstrengungen nötig sind, um die Reichweite zu erhöhen.

Einflussfaktoren auf die Teilnahmebereitschaft bei ready4life Klassenebene • (Angehende) Fachkräfte • Berufsgymnasialklassen • Jüngere Einführende • Projektteam-Mitglieder • Persönliche Einführungen Individuelle Ebene • Weibliche Teilnehmende • Geringere soziale Kompetenzen • Cannabis-Konsumerfahrung • Problematische Internetnutzung • Höherer wahrgenommener Stress Erhöhte Teilnahmebereitschaft App-Download: 72,3% Studienteilnahme: 46,7%

Abbildung: Die Infografik visualisiert die wichtigsten Einflussfaktoren auf die Teilnahmebereitschaft bei der "ready4life"-App, wie sie in der Studie von Guertler et al. (2024) identifiziert wurden. Sie ist in drei Hauptbereiche unterteilt: Klassenebene, individuelle Ebene und eine Ergebnisbox mit den Gesamtteilnahmeraten. Auf Klassenebene werden Faktoren wie die Ausbildungsart, das Alter der Einführenden und die Art der Einführung dargestellt. Auf individueller Ebene werden Merkmale wie Geschlecht, soziale Kompetenzen und Risikoverhalten aufgezeigt. Die Ergebnisbox fasst die Gesamtteilnahmeraten für App-Downloads (72,3%) und Studienteilnahme (46,7%) zusammen. Diese übersichtliche Darstellung ermöglicht es Fachkräften, schnell die wichtigsten Einflussfaktoren zu erfassen und bei der Planung und Durchführung ähnlicher Präventionsprogramme zu berücksichtigen.

3. Zielgruppenspezifische Ansprache und Inhalte

Ein wichtiger Befund der Studie ist, dass das „ready4life“-Programm offenbar besonders gut jene Jugendlichen anspricht, die tatsächlich einen erhöhten Präventionsbedarf aufweisen. Dies zeigt sich in der höheren Teilnahmebereitschaft von Personen mit:

  • Cannabiskonsum in der Vergangenheit
  • Problematischer Internetnutzung
  • Höherem wahrgenommenen Stress
  • Geringeren sozialen Kompetenzen

Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Möglichkeit zur Selbstauswahl von Modulen und die Fokussierung auf Lebenskompetenzen neben suchtspezifischen Inhalten ein vielversprechender Ansatz ist, um auch jene Jugendlichen zu erreichen, die möglicherweise weniger Motivation für klassische suchtpräventive Angebote mitbringen.

Praktische Implikationen für Fachkräfte

1. Flexibilität in der Implementierung

Die Studie unterstreicht die Bedeutung von Flexibilität bei der Einführung digitaler Präventionsprogramme. Fachkräfte sollten bereit sein, verschiedene Implementierungsstrategien zu nutzen und diese an die jeweiligen Umstände anzupassen. Dabei sollte jedoch der Wert persönlicher Einführungen nicht unterschätzt werden, da diese zu höheren Teilnahmeraten führten.

Praxistipp: Entwickeln Sie flexible Einführungskonzepte, die sowohl persönliche als auch digitale Formate umfassen. Schulen Sie Ihr Team in beiden Ansätzen, um auf unterschiedliche Situationen reagieren zu können.

2. Zielgruppenspezifische Ansprache

Die Ergebnisse zeigen deutliche Unterschiede in der Teilnahmebereitschaft verschiedener Gruppen. Fachkräfte sollten diese Erkenntnisse nutzen, um ihre Ansprache und Rekrutierungsstrategien anzupassen.

Praxistipp: Entwickeln Sie spezifische Ansprachestrategien für unterschiedliche Berufsgruppen und Bildungshintergründe. Beziehen Sie dabei die Erkenntnisse zu individuellen Risikofaktoren (z.B. problematische Internetnutzung, Stress) in Ihre Kommunikation ein, um die Relevanz des Programms für die Zielgruppe zu verdeutlichen.

3. Ganzheitlicher Präventionsansatz

Die höhere Teilnahmebereitschaft von Jugendlichen mit multiplen Risikofaktoren unterstreicht die Bedeutung eines ganzheitlichen Präventionsansatzes, der neben suchtspezifischen Themen auch Lebenskompetenzen adressiert.

Praxistipp: Integrieren Sie Module zur Förderung von Lebenskompetenzen (z.B. Stressbewältigung, soziale Kompetenzen) in Ihre Präventionsangebote. Ermöglichen Sie den Teilnehmenden, selbst zu wählen, welche Themen für sie relevant sind.

4. Nutzung digitaler Tools

Die Studie zeigt das Potenzial app-basierter Ansätze in der Suchtprävention. Fachkräfte sollten die Möglichkeiten digitaler Tools in ihrer Arbeit aktiv erkunden und nutzen.

Praxistipp: Informieren Sie sich regelmäßig über aktuelle digitale Präventionstools und deren Evaluationsergebnisse. Erwägen Sie Pilotprojekte, um die Akzeptanz und Wirksamkeit solcher Tools in Ihrem spezifischen Arbeitskontext zu testen.

5. Geschlechterspezifische Ansätze

Die höhere Teilnahmebereitschaft weiblicher Teilnehmer weist auf die Notwendigkeit hin, geschlechterspezifische Strategien zu entwickeln, um auch männliche Jugendliche besser zu erreichen.

Praxistipp: Entwickeln Sie spezifische Ansprache- und Inhaltsstrategien für männliche Teilnehmer. Beziehen Sie männliche Vorbilder oder Peer-Educator in die Programmentwicklung und -durchführung ein.

Internationale Perspektive

Um die Ergebnisse der deutschen Studie in einen breiteren Kontext zu stellen, lohnt sich ein Blick auf internationale Erfahrungen mit ähnlichen digitalen Präventionsprogrammen. Der Artikel von Guertler et al. (2024) erwähnt eine parallele Studie in der Schweiz, die das „ready4life“-Programm evaluierte:

Haug et al. (2022) führten eine ähnliche Untersuchung in der Schweiz durch und berichteten von einer Teilnahmerate von 58% unter Berufsschülern. Diese Rate liegt etwas höher als die 46,7% in der deutschen Studie, was möglicherweise auf unterschiedliche Implementierungsstrategien oder kulturelle Faktoren zurückzuführen sein könnte.

Interessanterweise zeigen beide Studien, dass app-basierte Interventionen besonders effektiv bei der Reduzierung von riskantem Alkoholkonsum und problematischer Internet- oder Social-Media-Nutzung waren. Dies deutet darauf hin, dass digitale Präventionsansätze länderübergreifend ähnliche Wirkungsmechanismen aufweisen können.

Die Autoren verweisen auch auf andere internationale Studien, die die Wirksamkeit digitaler Interventionen und Chatbots zur Veränderung des Substanzkonsums bei Jugendlichen und (jungen) Erwachsenen belegen (Aneni et al., 2023; Monarque et al., 2023; Ogilvie et al., 2022). Dies unterstreicht, dass der Einsatz digitaler Tools in der Suchtprävention ein globaler Trend ist, der in verschiedenen Ländern und Kulturen vielversprechende Ergebnisse zeigt.

Diese internationale Perspektive verdeutlicht, dass app-basierte Präventionsansätze wie „ready4life“ Teil einer globalen Entwicklung in der Suchtprävention sind. Fachkräfte in Deutschland können von diesen internationalen Erfahrungen profitieren und gleichzeitig durch ihre eigenen Erkenntnisse zum globalen Wissenspool beitragen.

Fazit

Die Studie von Guertler et al. (2024) liefert wertvolle Erkenntnisse zur Implementierung und Reichweite app-basierter Suchtprävention an Berufsschulen. Sie zeigt, dass digitale Ansätze wie „ready4life“ das Potenzial haben, eine breite Gruppe von Jugendlichen zu erreichen, insbesondere jene mit erhöhtem Präventionsbedarf. Gleichzeitig macht sie deutlich, dass der Erfolg solcher Programme von einer flexiblen, zielgruppenspezifischen Implementierung abhängt.

Für Fachkräfte in der Suchtprävention und Gesundheitsförderung bieten diese Ergebnisse wichtige Anhaltspunkte für die Weiterentwicklung ihrer Arbeit. Die Integration digitaler Tools, kombiniert mit bewährten persönlichen Ansätzen, sowie die Berücksichtigung individueller Risikofaktoren und Lebenskompetenzen scheinen vielversprechende Wege zu sein, um die Effektivität und Reichweite von Präventionsmaßnahmen zu erhöhen.

Zukünftige Forschung und Praxis sollten sich darauf konzentrieren, die langfristigen Auswirkungen solcher app-basierten Interventionen zu untersuchen und Strategien zu entwickeln, um bisher unterrepräsentierte Gruppen besser zu erreichen. Nur so kann das volle Potenzial digitaler Präventionsansätze ausgeschöpft und nachhaltig zur Gesundheitsförderung junger Menschen beigetragen werden.

Literaturverzeichnis

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Haug, S., Boumparis, N., Wenger, A., Schaub, M. P., & Paz Castro, R. (2022). Efficacy of a mobile app-based coaching program for addiction prevention among apprentices: A cluster-randomized controlled trial. International Journal of Environmental Research and Public Health, 19(23), 15730. https://doi.org/10.3390/ijerph192315730

Monarque, M., Sabetti, J., & Ferrari, M. (2023). Digital interventions for substance use disorders in young people: Rapid review. Substance abuse treatment, prevention, and policy, 18(1), 1–29. https://doi.org/10.1186/s13011-023-00518-1

Ogilvie, L., Prescott, J., & Carson, J. (2022). The use of chatbots as supportive agents for people seeking help with substance use disorder: A systematic review. European addiction research, 28(6), 405–418. https://doi.org/10.1159/000525959

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