Integrierte kommunale Präventionsstrategien zur Förderung des gesunden Aufwachsens
Communities That Care und Präventionsketten im Vergleich
inPrävention6. März 2024
Dieser Artikel vergleicht zwei prominente Ansätze integrierter kommunaler Präventionsstrategien: Communities That Care (CTC) und Präventionsketten. Beide Konzepte zielen darauf ab, auf kommunaler Ebene verschiedene Akteure und Angebote zu vernetzen, um Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung ganzheitlich zu fördern und Problemverhalten vorzubeugen. Der Vergleich umfasst theoretische Grundlagen, Vorgehensweisen, Wirksamkeitsnachweise sowie spezifische Stärken und Herausforderungen beider Ansätze. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei den Aspekten der Armutssensibilität, der lebenslaufumfassenden Perspektive, der Partizipation und der Familieneinbindung gewidmet.
In den letzten Jahrzehnten hat sich in der Präventionsforschung und -praxis die Erkenntnis durchgesetzt, dass komplexe Problemlagen wie Kinder- und Jugenddelinquenz, Substanzmissbrauch oder psychische Auffälligkeiten nicht durch isolierte Einzelmaßnahmen, sondern nur durch umfassende, integrierte Ansätze wirksam angegangen werden können (Hawkins et al., 2002). Zwei prominente Konzepte, die diesen Anspruch verfolgen, sind „Communities That Care“ (CTC) und die „Präventionskette“. Beide zielen darauf ab, auf kommunaler Ebene verschiedene Akteure und Angebote zu vernetzen, um Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung zu fördern. Communities That Care betont zusätzlich die Vorbeugung von Problemverhalten.
Dieser Artikel vergleicht die beiden Ansätze hinsichtlich ihrer konzeptionellen Grundlagen, Vorgehensweisen und Wirksamkeitsnachweise. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Frage, inwiefern es sich jeweils um integrierte kommunale Präventionsstrategien handelt. Abschließend werden die spezifischen Vorteile und Herausforderungen beider Ansätze herausgearbeitet.
Communities That Care wurde in den 1980er Jahren von J. David Hawkins und Richard F. Catalano an der University of Washington entwickelt (Hawkins et al., 2002). Das Konzept basiert auf dem Social Development Model, einer integrativen Theorie zur Erklärung prosozialen und problematischen Verhaltens von Kindern und Jugendlichen (Catalano & Hawkins, 1996).
Das Social Development Model integriert Erkenntnisse aus der Kontrolltheorie, der sozialen Lerntheorie und der differentiellen Assoziationstheorie. Es postuliert, dass Kinder und Jugendliche dann prosoziales Verhalten entwickeln, wenn sie 1) Gelegenheiten für eine sinnvolle Beteiligung in Familie, Schule und Gemeinwesen erhalten, 2) die nötigen Fähigkeiten zur Beteiligung besitzen und 3) für ihr Engagement Anerkennung erfahren. Dies führt zu einer Bindung an prosoziale Andere und zur Übernahme prosozialer Normen, was wiederum prosoziales Verhalten fördert. Umgekehrt kann eine Bindung an Personen mit problematischen Verhaltensweisen zur Übernahme entsprechender Normen und Verhaltensweisen führen (Catalano & Hawkins, 1996).
Auf Basis dieser theoretischen Grundlage verfolgt Communities That Care einen systematischen, datengestützten Ansatz zur kommunalen Prävention (Hawkins et al., 2008):
Dieser Prozess wird in einem Zyklus von etwa 2-5 Jahren wiederholt.
Communities That Care kann als integrierte kommunale Präventionsstrategie bezeichnet werden, da es:
Ein wichtiger Aspekt des CTC-Ansatzes ist seine Armutssensibilität. CTC erkennt an, dass sozioökonomische Ungleichheiten erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung von Jugendlichen haben können. Der Ansatz umfasst daher Maßnahmen, die darauf abzielen, strukturelle Barrieren wie Armut und Gesundheitsdisparitäten zu überwinden.
Ein zentraler Bestandteil dieser Strategie ist die Förderung von Schutzfaktoren, die den negativen Einfluss sozioökonomischer Benachteiligungen minimieren können. CTC betont die Bedeutung einer umfassenden Gemeinschaftsbeteiligung, um sicherzustellen, dass die Bedürfnisse aller Jugendlichen, insbesondere der am stärksten gefährdeten, berücksichtigt werden.
Die Flexibilität des CTC-Modells ermöglicht es, den Ansatz an die spezifischen Herausforderungen und Stärken der jeweiligen Gemeinschaft anzupassen. Dies ist besonders wichtig in Gemeinschaften mit unterschiedlichen sozialen und ethnischen Zusammensetzungen. CTC verfolgt einen universellen Ansatz, um Stigmatisierung zu vermeiden und die gesamte Gemeinschaft zu erreichen.
CTC integriert eine lebenslaufumfassende Perspektive, die die Entwicklung von der Geburt bis ins junge Erwachsenenalter umfasst. Diese umfassende Sichtweise ist entscheidend für die Schaffung nachhaltiger positiver Verhaltensmuster und langfristiger Erfolge in der Jugend.
Der Ansatz betont die Notwendigkeit frühzeitiger Interventionen und wird durch die Anwendung des Social Development Strategy (SDS) Modells unterstützt. Die im Rahmen von CTC eingesetzten Maßnahmen sind so strukturiert, dass sie von der frühen Kindheit bis zum Übergang ins Erwachsenenalter spezifische Bedarfe und Herausforderungen ansprechen.
CTC legt großen Wert auf die Partizipation von Jugendlichen und die Förderung von Schutzfaktoren. Der Ansatz betont die aktive Beteiligung von Jugendlichen an Gemeinschaftsprozessen und Entscheidungsfindungen, was durch die Schaffung von Möglichkeiten zur prosozialen Beteiligung und durch Anerkennung unterstützt wird.
Schutzfaktoren wie emotionale und soziale Kompetenz, Selbstwirksamkeit und der Glaube an eine positive Zukunft sind wesentliche Elemente, die Jugendliche vor riskantem Verhalten schützen und ihre Resilienz stärken.
Das Konzept der Präventionskette wurde in Deutschland entwickelt und wird seit den 2000er Jahren in verschiedenen Kommunen umgesetzt. Es zielt darauf ab, Kinder und Jugendliche von der Geburt bis zum Berufseinstieg lückenlos zu fördern und zu unterstützen.
Präventionsketten werden als integrierte kommunale Gesamtstrategien bezeichnet, die die vielfältigen fördernden und unterstützenden Angebote zur Gesundheitsförderung und Prävention strategisch und zielorientiert aufeinander abstimmen. Sie sind als Strukturansatz zu verstehen und darauf ausgerichtet, ein umfassendes und tragfähiges Netz von Unterstützung, Beratung und Förderung unter Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Familien auf kommunaler Ebene zu entwickeln (Richter-Kornweitz, Holz & Kilian, 2023).
Ziel der Zusammenarbeit ist es, die Teilhabechancen aller jungen Menschen für ein gelingendes Aufwachsen zu fördern, mit umfassenden Chancen auf Bildung, Gesundheit und monetär-materieller sowie sozio-kultureller Teilhabe für alle. Dies gilt insbesondere für jene, die in Armutslagen aufwachsen, um dabei den langfristigen Folgen fehlender Teilhabechancen gemeinsam, abgestimmt und wirksam entgegenzutreten.
Die Präventionskette basiert nicht auf einer spezifischen Theorie, sondern integriert verschiedene Ansätze aus Gesundheitsförderung, Pädagogik und Sozialarbeit. Zentrale Prinzipien sind:
Konzeptionell knüpfen Präventionsketten an zentrale Konzepte der Gesundheitsförderung und der Sozialen Arbeit an. Grundlegend sind das Modell der sozialen Determinanten der Gesundheit, die salutogenetische Perspektive, der Ansatz der Lebenslagen und Lebensphasen sowie das Präventionsverständnis zur Bearbeitung sozialer Probleme (Holz & Mitschke, 2018; Holz, 2021).
Der Aufbau einer Präventionskette verläuft in der Regel wie folgt (Richter-Kornweitz & Utermark, 2013):
Auch die Präventionskette stellt eine integrierte kommunale Strategie dar, da sie:
Communities That Care und Präventionsketten weisen als integrierte kommunale Strategien viele Gemeinsamkeiten auf. Beide verfolgen einen umfassenden, sektorenübergreifenden Ansatz zur Förderung des gesunden Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen. Sie setzen auf Vernetzung und Kooperation verschiedener Akteure und zielen auf eine langfristige Verankerung von Prävention in kommunalen Strukturen ab.
Es gibt jedoch auch einige Unterschiede:
Communities That Care basiert auf einer spezifischen, empirisch fundierten Theorie (Social Development Model). Die Präventionskette integriert verschiedene theoretische Ansätze, ohne sich auf ein bestimmtes Modell festzulegen.
Communities That Care setzt stark auf die systematische Erhebung und Nutzung von Daten zur Bedarfsermittlung und Evaluation. Dabei kommen validierte Messinstrumente zum Einsatz. Die erfassten Risiko- und Schutzfaktoren stammen aus längsschnittlichen Untersuchungen und haben einen hohen Vorhersagewert. Bei Präventionsketten wird Datennutzung weniger betont, obwohl auch hier Bedarfs- und Bedürfniserhebungen durchgeführt werden.
Communities That Care greift auf eine Datenbank evidenzbasierter Programme zurück, in Deutschland bekannt als „Grüne Liste Prävention“. Bei Präventionsketten gibt es keine vergleichbare systematische Programmauswahl, sondern eine stärkere Orientierung an vorhandenen lokalen Angeboten und Strukturen.
Die Wirksamkeit von Communities That Care wurde in mehreren Evaluationen, einschließlich längsschnittlicher Studien, nachgewiesen. Für Präventionsketten gibt es bislang keine vergleichbaren Wirksamkeitsnachweise, allerdings wird zunehmend an Evaluationskonzepten gearbeitet.
Sowohl CTC als auch Präventionsketten legen Wert auf Armutssensibilität und eine lebenslaufumfassende Perspektive. CTC zeichnet sich durch einen besonders strukturierten Ansatz zur Überwindung sozioökonomischer Barrieren aus.
Beide Ansätze betonen die Bedeutung von Partizipation und Familieneinbindung. CTC setzt auf spezifische Programme zur Förderung elterlicher Kompetenzen, während Präventionsketten einen stärkeren Fokus auf die generelle Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Familien bei der Angebotsentwicklung legen.
Sowohl Communities That Care als auch Präventionsketten stellen vielversprechende Ansätze für eine integrierte kommunale Präventionsstrategie dar. Beide zielen darauf ab, verschiedene Akteure zu vernetzen und Kinder und Jugendliche ganzheitlich zu fördern.
Communities That Care zeichnet sich durch seine jahrzehntelange wissenschaftliche Absicherung, den strukturierten Prozess und vor allem den konsequent datengestützten Ansatz aus. Dies erleichtert eine zielgerichtete, bedarfsorientierte und wirkungsvolle Umsetzung von Prävention und Gesundheitsförderung. Die nachgewiesene Wirksamkeit macht Communities That Care zu einer attraktiven Option für Kommunen, die evidenzbasiert vorgehen möchten.
Die Präventionskette hat den Vorteil einer größeren Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an lokale Gegebenheiten. Sie ermöglicht es Kommunen, schrittweise vorzugehen und an bestehende Strukturen anzuknüpfen. Der lebensverlaufsbezogene Ansatz und die stärkere Betonung von Partizipation sind weitere Stärken dieses Konzepts.
Für die Weiterentwicklung kommunaler Präventionsstrategien in Deutschland wäre eine Synthese beider Ansätze vielversprechend. Eine solche Synthese könnte folgende Elemente umfassen:
Für eine erfolgreiche Umsetzung integrierter kommunaler Präventionsstrategien sind förderliche Rahmenbedingungen nötig, etwa ausreichende Ressourcen, politische Unterstützung und geeignete Governancestrukturen auf kommunaler Ebene. Die Erfahrungen aus beiden Ansätzen zeigen, dass eine kontinuierliche, hauptamtliche Koordination, klare politische Mandate und die Einbindung aller relevanten Akteure zentrale Erfolgsfaktoren sind.
Weitere Forschung sollte die langfristigen Wirkungen und Erfolgsfaktoren integrierter kommunaler Präventionsstrategien untersuchen. Zudem wäre es wichtig, Implementierungsprozesse und Gelingensbedingungen in verschiedenen kommunalen Kontexten zu analysieren. Dies könnte dazu beitragen, beide Ansätze weiterzuentwickeln und ihre Verbreitung zu fördern.
Letztlich geht es darum, Kommunen dabei zu unterstützen, nachhaltige Strukturen für eine wirksame Prävention und Gesundheitsförderung aufzubauen. Integrierte Ansätze wie Communities That Care und Präventionsketten bieten dafür eine vielversprechende Grundlage. Ihr Potenzial sollte durch kontinuierliche Weiterentwicklung, Evaluation und Anpassung an lokale Bedingungen bestmöglich ausgeschöpft werden, um allen Kindern und Jugendlichen faire Chancen auf ein gesundes und gelingendes Aufwachsen zu ermöglichen.
Catalano, R. F., & Hawkins, J. D. (1996). The social development model: A theory of antisocial behavior. In J. D. Hawkins (Ed.), Delinquency and crime: Current theories (pp. 149-197). Cambridge University Press.
Hawkins, J. D., Catalano, R. F., & Arthur, M. W. (2002). Promoting science-based prevention in communities. Addictive Behaviors, 27(6), 951-976. https://doi.org/10.1016/S0306-4603(02)00298-8
Hawkins, J. D., Brown, E. C., Oesterle, S., Arthur, M. W., Abbott, R. D., & Catalano, R. F. (2008). Early effects of Communities That Care on targeted risks and initiation of delinquent behavior and substance use. Journal of Adolescent Health, 43(1), 15-22. https://doi.org/10.1016/j.jadohealth.2008.01.022
Holz, G. & Mitschke, C. (2018). Kommunale Prävention als Fachkonzept und Gesamtstrategie für eine kindorientierte Armutsprävention. In G. Holz, A. Richter-Kornweitz, & C. Wüstendörfer (Hrsg.), Armut und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen (S. 283-302). Beltz Juventa.
Holz, G. (2021). Stärkung von Armutssensibilität. Ein Basiselement individueller und struktureller Armutsprävention für junge Menschen. Berlin. https://www.vielfalt-entfalten.de/fileadmin/Redaktion/pdf/staerkung-von-armutssensibilitat.pdf
Richter-Kornweitz, A., & Utermark, K. (2013). Werkbuch Präventionskette: Herausforderungen und Chancen beim Aufbau von Präventionsketten in Kommunen. BZgA. https://shop.bzga.de/werkbuch-praeventionskette-61411100/
Richter-Kornweitz, A., Holz, G. & Kilian, A. (2023). Präventionskette – Integrierte kommunale Gesamtstrategie zur Gesundheitsförderung und Prävention. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden. https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i093-2.0